Vor den Olympischen Spielen von Atlanta 1996 – Ein Trainingstag mit Uta

Von Jörg Wenig
Uta in Boulder © Tim DeFrisco
Uta in Boulder © Tim DeFrisco

Longmont, 5:30 Uhr. Einen Wecker braucht Uta nicht. Ihre innere Uhr sagt ihr, dass es bald hell wird in Colorado – Zeit zum Loslaufen. Es ist ein Tag im Februar. Die Langstreckenläuferin der LG SCC Nike Berlin bereitet sich auf den Boston-Marathon vor.

Doch eigentlich ist dies gleichzeitig schon ein weiterer Schritt. Denn dieses Jahr ist ein besonderes für die 30-Jährige. Die derzeit weltbeste Marathonläuferin, die in den letzten knapp vier Jahren über die klassischen 42,195 Kilometer für ihre Konkurrentinnen in Berlin, New York oder Boston unschlagbar war, hat sich ein neues Ziel gesetzt: In Boston und Atlanta zu triumphieren, das ist eine Herausforderung wie nie zuvor, bei einem für Marathonverhältnisse kurzen Zeitabstand von etwas über drei Monaten zwischen zwei so geschichtsträchtigen Rennen.

Der Tag beginnt in dem kleinen Vorort von Boulder mit einem leichten Einlaufen, nur einige Kilometer ganz locker. “1996 kann ein tolles Jahr werden: den 100. Boston-Marathon zu gewinnen und dann auch noch den Marathon bei der 100-Jahr-Feier der Olympischen Spiele – das wäre super. Ich kann das vielleicht schaffen. Ich habe eine gewisse Souveränität erreicht, so dass ich auch keine Angst habe, wenn ich mir dieses hohe Ziel setze. Ich spüre, dass ich mein Training hervorragend absolvieren kann. Durch die harte Arbeit der letzten Jahre habe ich jetzt ein Niveau, das sehr schwer zu erreichen war. Vor allen Dingen ging so etwas nicht von heute auf morgen.“

Sie ist zurück in ihrem Haus, wo sich ihr Freund und Trainer Dieter Hogen inzwischen um das Frühstück gekümmert hat. Es gibt ein Vollkornbrötchen mit Käse und Truthahnbrust, eine halbe Portion Müsli mit etwas Banane und Tee. Nach einer 60- bis 90-minütigen Ruhephase fährt Dieter Hogen mit Uta zu einer der vielen Laufstrecken in höherer Lage von bis zu 2700 Metern.

Sie haben Pech mit dem Wetter. Fast in Sturmstärke bläst Uta der kalte Wind ins Gesicht. Um überhaupt die Trainingseinheit laufen zu können, rennt sie auf den windigsten Abschnitten im Windschutz von Dieter Hogens Geländewagen. Noch schlimmer trifft es an einem anderen Tag die von Dieter Hogen betreuten kenianischen Läufer und den Berliner Rainer Wachenbrunner. Die Gruppe wird von einem Blizzard überrascht. Das Training ist extrem hart, aber erfolgversprechend.

Etwa zwei Monate später bekommt Uta den Lohn für ihren enormen Aufwand: Sie gewinnt den 100. Boston-Marathon. Und die 30-Jährige erhält bei diesem Triumph eine Bestätigung: sie verfügt über ein unglaubliches Leistungsniveau, das im Bereich des Weltrekords liegen muss, ansonsten wäre ein Sieg mit schwerem Durchfall nicht möglich gewesen. Sie ist abgehärtet durch das Training in Boulder am Rande der Rocky Mountains. “Mein starker Wille und meine Erfahrungen haben mir sehr geholfen, dieses Rennen durchzustehen und zu gewinnen. Ich wollte nicht aufgeben! Noch auf den letzten beiden Kilometern kann bei einem Marathonlauf sehr viel passieren, so wie in Boston.“

Der gleiche Tagesablauf einige Monate später: Es ist Sommer in Boulder, das Thermometer zeigt 35 Grad Celsius. Uta fährt mit Dieter Hogen hinauf zur “Magnolia” – es ist eine der härtesten Trainingsstrecken. Goldgräber haben die Magnolia Road im letzten Jahrhundert in die Berge hineingebaut. Die Schotterstraße ist stark profiliert und hat eine Höhe von 2400 bis 2700 Metern. Zu der Gruppe stoßen jetzt auch Physiotherapeut Dirk Schmidt sowie die kenianischen Läufer.

Uta erhält je nach Streckenlänge einige Minuten Vorsprung und läuft los. Dann rennen die Kenianer hinterher, während Dieter Hogen und Dirk Schmidt im Auto verschiedene Punkte ansteuern, um Getränkeflaschen zu reichen. Irgendwann haben die Laufstars aus Kenia die Berlinerin eingeholt und geben ihr so noch einmal einen “Kick”. Bis zu 40 Kilometer läuft Uta auf der “Magnolia”. Wenn man es verkraftet, ist es die beste Vorbereitung auf Rennen wie in Boston oder Atlanta, wo die Marathonstrecken ebenfalls ungewöhnlich profiliert sind.

In den letzten zehn bis zwölf Wochen vor einem Marathon erreiche ich durchschnittlich 220 bis 230 Trainingskilometer. Mit Gymnastik, Physiotherapie, leichtem Krafttraining und Schwimmen habe ich schnell einen täglichen 12-Stunden-Job ohne freien Tag. Da ist es entscheidend, wie man sich für dieses Training motiviert, wie man die Lust am Laufen erhält. Sehr wichtig ist für mich die Abwechslung und die Erholung. Das gilt für alle Bereiche – vom Training bis zu meinem ganz persönlichen Umfeld – und für die gesamte Jahresplanung. Nur so habe ich die Möglichkeit, auch längerfristig erfolgreich zu sein und meine Leistungen immer weiter zu steigern.” Um erfolgreich arbeiten zu können, muss der Athlet laut Dieter Hogen die körperlichen und charakterlichen Voraussetzungen mitbringen, psychisch stabil sein und sich auch entsprechend ernähren. Die Schaffung eines perfekten Umfeldes ist der wichtigste Punkt für den Erfolg.

Uta ist inzwischen wieder in Longmont. Und Dirk Schmidt ist für die physiotherapeutische Behandlung gleich mitgefahren. Währenddessen wird aus dem Trainer Dieter Hogen der Koch. Etwa um 13 Uhr gibt es Mittagessen, an diesem Tag, wie mehrmals in der Woche, Fisch mit Gemüse und Kartoffeln. Immer wieder werde ich über die Hintergründe meines Erfolges befragt. Es ist, kurz gesagt, das professionelle Verhalten in allen für die Leistung wichtigen Bereichen. Und dazu gehört längst nicht nur das Training. Ganz wichtig sind auch Erholung und Ernährung.”

Zwei Stunden lang ist Mittagsruhe. Anschließend gibt es Tee und Eierkuchen aus Vollkornmehl. Wenn vormittags die Magnolia” auf dem Programm stand, dann ist das zweite Training am Nachmittag sehr locker. Ein kürzerer Lauf über einige Kilometer. “Ich bin mental sehr gut drauf. Das ist sehr wichtig nach dem, was mir in Boston passiert ist. Es hat mir sicher geholfen, dass ich mir sagen kann, schlimmer als dort kann es kaum noch kommen. Ich denke, ich kann eine gute Leistung in Atlanta bringen, auch wenn die klimatischen Bedingungen dort bedingt durch Hitze und sehr hohe Luftfeuchtigkeit extrem sein werden.“

Ein leichtes Athletikprogramm im eigenen Fitnesskeller schließt sich dem Nachmittags-Lauf an. Dann ist Erholung angesagt, entweder in der Sauna oder bei einem Bad. Zum Abendbrot gibt es Vollkornbrot, viel Gemüse, eventuell Thunfisch. “In Atlanta wird viel davon abhängen, wie man die Strecke und die Bedingungen einschätzt, wie man sich sein Rennen einteilt. Es wird sehr spannend werden. Ich freue mich darauf.“

Inzwischen ist es 21 Uhr in Longmont, Uta geht ins Bett. Nachts träumt sie schon mal von der nächsten Herausforderung oder probt diese während der langen Trainingsläufe in Colorado.

Heute sind es genau noch drei Wochen bis zum olympischen Marathon.