Turnen: Die „Mutter“ aller Sportarten

Von Piet Könnicke
© Betty Shepherd
© Betty Shepherd

„Um einen Salto zu können!“ Diese Antwort eines zehnjährigen Mädchens auf die Frage, warum es turnen will, würden wahrscheinlich fast alle Kinder geben. Viele Kinder, die auf einem Trampolin springen, versuchen früher oder später mutig einen Salto oder aus dem Sitzen mit einer einzigen Bewegung wieder in den Stand zu kommen. Viele Kinder, die einen Balken oder einen Baumstamm sehen, werden in Versuchung geraten, darauf zu balancieren. Und ein Klettergerüst auf einem Spielplatz ist deshalb so faszinierend, weil es unweigerlich das Bestreben weckt, hochzuklettern, zu hangeln oder eine Rolle um die Stange zu machen. Auf äußerst natürliche Weise wecken diese turnerischen Übungen den kindlichen Ehrgeiz, neue Bewegungen zu probieren und zu beherrschen.

Klettern, Hangeln, Springen

Die positiven Aspekte des Turnens für die kindliche Entwicklung sind enorm: Um den eigenen Körper zu erfassen bzw. kennen zu lernen und seine Umwelt zu erfahren, fördert das Turnen den Stellungs-, Spannungs- sowie den Gleichgewichtssinn. Turnen beeinflusst die allgemeine Kräftigung und Stabilisation während der körperlichen Entwicklung sowie die Gewandtheit, Beweglichkeit und Reaktionsfähigkeit äußerst positiv. Vor allem aber erfahren Kinder beim Turnen ein Körpergefühl, welches nirgendwo anders im Sport so grundlegend zu finden ist. Die Wechselwirkung zwischen inneren und äußeren Kräften und die Orientierung über die Körperlage im Raum bei ständig wechselnder Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit fördert in hohem Maße die Konzentrations- und Koordinationsfähigkeit. Zu den grundlegenden Bewegungsformen beim Turnen zählen: Rollbewegungen, Beinschwungbewegungen, Sprungbewegungen, Auf- und Umschwungbewegungen, Kippbewegungen, Überschlagbewegungen, Felgbewegungen und Stemmbewegungen.

Viele dieser turnerischen Elemente finden sich in spielerischer Form beim Klettern, Hangeln, Rollen, Stützen, Springen, Baumeln oder „Fliegen“ wieder. Diese Bewegungsformen haben einen überaus großen Einfluss auf das motorische und kognitive Lernen. Sie beinhalten das so genannte Überkreuzen über die Körpermittellinie und fördern so die Zusammenarbeit der linken und der rechten Gehirnhälfte. Die linke Hälfte ist verantwortlich für analytisches Denken, Sprache und logische Vorgänge, die rechte für ganzheitliches Denken, Kreativität, Raumorientierung, bildliche Vorstellungen und Gefühle.

Grundsätzlich lassen sich Kinder für Bewegung und Sport begeistern. Ihr Drang, turnerische Elemente auf spielerische Weise umzusetzen, ist von Natur aus vorhanden. Doch gerade für Stadtkinder hat sich durch Verstädterung, hohes Verkehrsaufkommen, eingeengte Wohnverhältnisse oder Medialisierung die Bewegungswelt und somit auch das Bewegungsverhalten verändert. Natürliche Bewegungsräume und damit die Möglichkeiten zum Laufen, Springen, Hangeln, Klettern, Rutschen, Wippen oder Schaukeln sind zum Teil sehr eingeschränkt. Umso mehr sollten sich Eltern nach organisierten Sport- und Trainingsmöglichkeiten für ihre Kinder umschauen. Aufgrund der langen Tradition des Turnens sollte es nicht schwer sein, im näheren Umfeld einen Turnverein oder eine Gymnastikgruppe zu finden. Dort gibt es die besten Voraussetzungen zum Turnen und eine Vielzahl von Geräten: Bänke, Hocker, Seile, Sprossenwände, Kletterstangen sowie Ringe, Barren, Stufenbarren, Pferd, Trampolin und Reck. Aber auch klassische Kinderspiele sowie Fun- und Trendsportarten, die wiederum in vielen Städten zu beobachten und bei vielen Kindern und Jugendlichen beliebt sind, beinhalten eine turnerische Komponente. Dazu zählen:

  • Seilspringen (allein, zu zweit, zu dritt…)
  • Jonglieren (Tücher, Bälle, Keulen etc.)
  • Geschicklichkeitsspiele (Tellerdrehen, Diabolo etc.)
  • Rollen (Roller, Pedalo, Einrad, Snakeboard, Kickboard etc.)
  • Balancieren (Stelzen, Moonhopper, Rola Bola etc.)

Durch diese Spiel- und Sportmöglichkeiten können turnerische Elemente in die kindlichen Freizeitaktivitäten einfließen. Zudem können sportliche Komponenten des Turnens, die viele Kinder besonders zum Nachmachen animieren, leicht Teil des familiären Sportprogramms sein. Für Vor- und Rückwärtsrollen, Hand- und Kopfstand, Rad schlagen oder eine Drehung um die eigene Körperachse findet sich immer Platz. Schon eine einfache Rumpfbeuge, um mit den Fingerspitzen die Zehen zu berühren, ist eine einfache Turnübung, die sich leicht praktizieren lässt – mit schnell messbarem Erfolg.

Erfolg durch Hilfe

Sicherlich ist Turnen eine Individualsportart. Doch es bieten sich viele Möglichkeiten für gemeinsames Training und Erleben des Sports. Durch gemeinsames Üben wird das Turnen spielerisch erlernt. In der Gruppe werden Misserfolge schnell wieder vergessen und Erfolgserlebnisse können zusammen schneller erzielt werden. Mit der Zeit erleben die Kinder, wie gegenseitige Hilfe zum erfolgreichen Turnen einer Übung führt und wie auch schwere Elemente gemeinsam bewältigt werden können.

Hilfestellungen spielen gerade beim Turnen eine elementare Rolle – ob im Sportverein, beim Turnunterricht in der Schule oder beim gemeinsamen Turnen mit Eltern und Geschwistern. Dabei lernen die Kinder, sich gegenseitig zu unterstützen und zu vertrauen. Doch sollte das Turntraining der Kinder in jedem Fall von einem Erwachsenen beaufsichtigt werden.

Gemeinsame Wurzeln

Dass es in vielen Städten Turnvereine gibt, erklärt sich durch die lange Tradition des Turnens. Die deutsche und amerikanische Turngeschichte ist sogar durch gemeinsame Wurzeln eng miteinander verbunden. In Deutschland veröffentlichte bereits im Jahr 1793 der Lehrer Johann Friedrich Gutsmuths das Buch „Gymnastik für die Jugend“, das später in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Weitaus bekannter wurde Friedrich Ludwig Jahn (1778 – 1852), der bis heute als Deutschlands Turnvater gilt. Das von ihm begründete Turnfest findet noch immer jährlich statt und erfreut sich bis heute enormer Popularität mit tausenden von Teilnehmern. Jahn war es, der den Barren, den Schwebebalken und die Ringe als Turngeräte entwickelte. Sein Ruf reichte bis nach Amerika, so dass sich das Harvard College um seine Dienste bemühte. Doch scheiterte eine Lehrtätigkeit an Jahns zu hohen Honorarvorstellungen. Stattdessen übernahm 1825 Amerikas Turn-Pionier Charles Follen die Stelle. Einen maßgeblichen Impuls bekam die amerikanische Turngeschichte von deutschen Auswanderern, die nach der deutschen Revolution 1848/49 nach Amerika übersiedelten. Unter ihnen waren viele Turner, die sich in Deutschland politisch engagiert hatten, nach dem Scheitern der Revolution emigrierten und in ihrer neuen Heimat die Entwicklung des Turnens wesentlich gefördert haben. Bis heute zählen die USA und Deutschland zu den erfolgreichsten Turnnationen der Welt. Bei den jüngsten olympischen Spielen ließen sich Millionen Fernsehzuschauer mitreißen von den Leistungen der Turner in Peking. Sie fieberten und jubelten, sie litten und sie feierten. Verbindet man Tradition, Erfolg, Begeisterung und kindliche Neugier, lässt sich Turngeschichte in vielen kleinen, individuellen Kapiteln weiterschreiben.

Dieser Artikel wurde von Peter Könnicke aus unserem Take The Magic Step-Team verfasst. Peter lebt in Potsdam, ist freiberuflicher Journalist, begeisterter Läufer und Vater eines 11-jährigen Sohnes.