WM-Spezial: Marathon in Japan – eine verrückte Geschichte

Von Jörg Wenig
Marathonbegeisterung in Japan - hier wird Naoko Takahashi beim Tokio-Marathon angefeuert. © www.photorun.net
Marathonbegeisterung in Japan - hier wird Naoko Takahashi beim Tokio-Marathon angefeuert. © www.photorun.net

Marathonlaufen in Japan ist eine verrückte Geschichte. Hundert- tausende säumen die Straßen von Tokio, Osaka, Fukuoka oder Nagoya, wenn in der Wintersaison die Elite- Marathonrennen gestartet werden. Millionen Japaner verfolgen die wichtigen internationalen Rennen am Fernsehschirm. Und die Stars werden in Nippon verehrt wie hier die populärsten Fußballspieler. „Irgend etwas macht uns marathon-verrückt“, antwortet die Marathon- Olympiasiegerin von Sydney 2000, Naoko Takahashi, auf die Frage, warum das so ist. „Ich kann auch nicht genau sagen, woran das liegt. Aber die TV-Quoten von Marathonrennen sind in Japan immer gut.“

Wenn bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Osaka am kommenden Sonnabend sowie am Sonntag der nächsten Woche die Marathon-Entscheidungen der Männer und Frauen auf dem Programm stehen, wird das japanische Interesse so groß sein wie an keiner anderen der insgesamt 47 Entscheidungen. Dass die klassischen 42,195 km einen ganz besonderen Reiz auf die Japaner ausüben, hat die Vergangenheit immer wieder gezeigt. Dabei spielt es keine Rolle, dass eine ganze Reihe von Stars auch in diesem Jahr auf die WM-Rennen verzichten und lieber bei einem finanziell lukrativen Herbst-Marathon an den Start gehen – so wie zum Beispiel Haile Gebrselassie (Äthiopien) in Berlin.

Bei den Weltmeisterschaften von Helsinki vor zwei Jahren verfolgten durchschnittlich etwa fünf Millionen Japaner die Wettkämpfe vor dem Fernseher. Bei den beiden Marathonrennen jedoch waren es in der Spitze fast dreimal so viele. Gut elf Millionen sahen sich den Lauf der Männer an, knapp 15 Millionen den der Frauen. Durch die beiden Marathon-Olympiasiege von Naoko Takahashi (Sydney 2000) und Mizuki Noguchi (Athen 2004) erwecken die Frauen zurzeit größeres Interesse als die Männer. Deswegen wird ihr Rennen in Osaka auch am letzten Tag der Titelkämpfe stattfinden.

Der Frauen-Marathon von Osaka wird allerdings ohne die beiden japanischen Stars Takahashi und Noguchi stattfinden. Doch das Reservoir japanischer Topläuferinnen ist so groß, dass trotzdem gute Medaillenchancen bestehen. Die Siegerin des Tokio-Marathons 2006, Reiko Tosa, hat vielleicht die besten Chancen im Rennen gegen die London-Marathon-Siegerin dieses Jahres, Zhou Chunxia (China), und die Weltmeisterin von 2003, Catherine Ndereba (Kenia). Bei den Männern gelten am Sonnabend unter anderen der Südafrikaner Hendrick Ramaala und Mubarak Shami (Katar) als Favoriten. Japan schickt im heißen Osaka unter anderen Wataru Okutani und Toshinari Suwa ins Rennen. Für die deutschen Starter erscheint es fast aussichtslos, eine vordere Platzierung zu erreichen. Die besten Chancen hat Melanie Kraus (Bayer Leverkusen). Während unter anderen Europameisterin Ulrike Maisch (LAV Rostock) verletzungsbedingt verzichten musste, starten neben Kraus noch Susanne Hahn (SV Saar 05), Martin Beckmann (LG Leinfelden) und Ulrich Steidl (SSV Hanau-Rodenbach).

Für Noguchi und Takahashi steht bereits die Qualifikation für Olympia im Vordergrund, die sie bei einem japanischen Herbstmarathon erreichen wollen. Die olympischen Triumphe haben sie ebenso populär wie finanziell unabhängig gemacht – sie können es sich leisten, auf die WM im eigenen Land zu verzichten. „Wir Japaner lieben die Olympischen Spiele. Deswegen hatte ich nach meinem Sydney-Sieg viele Auftritte, Autogrammstunden, Fototermine und so weiter“, erzählt Naoko Takahashi. Höhepunkt einer regelrechten Takahashi-Manie war eine Serie in dem Comic-Heft ,Young Sunday’. Unter dem Titel Kazekko (Die Tochter des Windes) wurde die Geschichte von Naoko Takahashi dargestellt. Als die populärste japanische Läuferin dann 2001 in Berlin den Marathon-Weltrekord brach und als erste Frau unter 2:20 Stunden lief (2:19:46), saßen in der Heimat bis zu 53 Millionen Landsleute vor dem Fernseher, um Takahashi zu sehen.

„Im Zuge der Nominierung des japanischen Marathon-Olympiateams für Athen 2004 kamen über 100 Journalisten zur Pressekonferenz. Fast alle wichtigen Fernsehstationen berichteten live von der Bekanntgabe der sechs Namen, manche unterbrachen sogar ihre Nachrichtensendungen“, erzählt Brendan Reilly, ein US-amerikanischer Manager, der mit den Japanern zusammen arbeitet. In Athen wurde schließlich Mizuki Noguchi zur Nachfolgerin von Naoko Takahashi. Noguchi erhielt nach dem größten Sieg ihrer Karriere rund 600 Interview-Anfragen und kam monatelang gar nicht mehr dazu, richtig zu trainieren. In ihrer Heimatstadt Kyoto wurde unter anderem eine Straße nach ihr benannt.

Auch wenn sie jetzt keine klaren Favoriten ins Rennen schicken, hoffen die Japaner auf einen Triumph wie bei der letzten WM in Japan vor 16 Jahren. Damals, 1991 in Tokio, erfüllte Hiromi Taniguchi die Erwartungen seiner Landsleute und wurde Weltmeister. „Ich wusste, dass ich die Hoffnungen einer ganzen Nation mit mir herumschleppte“, berichtete Hiromi Taniguchi später von dem enormen Erwartungsdruck und fügte hinzu: „Nachdem ich im Vorfeld der WM eine Reihe von großen Marathonrennen gewonnen hatte, war ich der Favorit – und ich hätte niemals den Kampf um die Marathon-Goldmedaille aufgegeben, egal wie viel Kraft es gekostet hätte.“