Olympische Spiele in London: Die zweite Heimat des Marathons
Von Jörg Wenig
Olympia 1908
Olympia 1948
Vom Polytechnic- zum London-Marathon
Marathon-Bestzeiten in London
London wird die erste Stadt sein, die zum dritten Mal Olympische Spiele ausrichtet. Zum dritten Mal steht damit auch der Marathonlauf auf dem Programm. Bei den ersten Auflagen der Olympischen Spiele, deren Geschichte 1896 in Athen begann, war die Marathondistanz nicht genau festgelegt. Sie betrug rund 40 Kilometer. In London jedoch wurden daraus 1908 zum ersten Mal 42,195 km. Dass diese Länge herauskam, lag vor allem am britischen Königshaus. Die Strecke wurde damals vom Eingang des Olympiastadions rückwärts vermessen. 40 Kilometer waren in Eton erreicht. Doch der Startpunkt sollte direkt an der Ost-Terrasse des Schlosses Windsor liegen, damit die königliche Familie bequem zuschauen konnte. Von Eton betrug die Distanz bis dorthin noch eine gute Meile. Damit war die Strecke 42 Kilometer lang.
Dabei blieb es jedoch nicht, denn auch im Olympiastadion war eine Anpassung nötig. Das Ziel musste vor der königlichen Loge platziert werden. So kamen 195 Meter hinzu: 42,195 km beziehungsweise 26 Meilen und 385 Yards. Der Londoner Marathon des Jahres 1908 wurde allerdings nicht gleich zum Standardmaß. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) beschloss 1914 zunächst eine Marathonlänge von genau 42 Kilometern. Doch nachdem die Strecke bei den Spielen in Amsterdam 1920 auf 42,75 km verlängert worden war, begann die Diskussion von neuem. 1921 beschloss dann schließlich die IAAF, dass die Streckenlänge künftig 42,195 km betragen muss.
Nebenbei bemerkt: In John Bryants Buch „The Marathon Makers” wird beschrieben, dass John Disley, ein Mitbegründer des heutigen London-Marathons, nach Messungen glaubt, dass der Kurs von London 1908 durch die Verlegung des Starts 159 Meter zu kurz war.
Bei den diesjährigen Olympischen Spielen wird der Marathon übrigens nicht vor der königlichen Loge enden, sondern auf dem Boulevard zwischen dem Buckingham Palace und dem Trafalgar Square. „Die Royals sind nicht mehr das, was sie einmal waren“, sagte David Wallechinsky, der Präsident der International Society of Olympic Historians, gegenüber der Zeitung The New York Times. „Ich bezweifle, dass heutzutage jemand den Marathon oder das Fechten verlegen würde, um Prinz Harry einen Gefallen zu tun.“
Olympia 1908: Dramatik kurz vor dem Ziel
Der olympische Marathon von London 1908 ist auch vor allem aufgrund seines dramatischen Rennverlaufes in Erinnerung geblieben. Etwa 75.000 Zuschauer erwarteten im White City Stadion im Stadtteil Shepherd’s Bush das Ende dieses für sie damals noch neumodischen Wettbewerbs namens Marathon.
Sie wurden Zeugen eines olympischen Dramas.
Der italienische Bäcker Dorando Pietri lag in dem Hitzerennen mit Temperaturen von gut 25 Grad Celsius lange Zeit in Führung und erreichte als Erster das Stadion. Vollkommen erschöpft lief er in die falsche Richtung. Nachdem ihm der richtige Weg gewiesen worden war, brach er zusammen, stand wieder auf und taumelte weiter Richtung Ziellinie. Insgesamt fünfmal fiel er zu Boden, und als dann der erste Verfolger, John Hayes (USA), das Stadion erreichte, konnten es einige Offizielle nicht mehr mit ansehen. Sie führten den Italiener über die Ziellinie, was zur Folge hatte, dass Dorando Pietri nach einem Protest der US-Amerikaner disqualifiziert wurde. Wäre die Strecke nicht um jene 195 Meter bis zur königlichen Loge verlängert worden, hätte der Italiener wohl gewonnen. So aber siegte John Hayes in 2:55:18,4 Stunden. Diese Zeit wurde später als erste Weltbestzeit im Marathon (Weltrekorde führt die IAAF offiziell erst seit 2003) nachträglich anerkannt.
Olympia 1948: Entscheidung auf den letzten Metern
Ein ähnlich bewegendes Finish gab es in London noch einmal 40 Jahre später. Das Wembley Stadion war die olympische Arena, wo das Rennen begann und endete. Die Strecke führte durch den nördlichen Teil der Stadt. Der Belgier Etienne Gailly hatte frühzeitig die Führung übernommen und seinen Vorsprung nach 25 km auf 41 Sekunden ausgebaut. Doch dann wurde er bei seinem Marathondebüt langsamer und knapp zehn Kilometer vor dem Ziel überholt. Etienne Gailly kam aber noch einmal zurück und lief seinerseits 800 Meter vor dem Stadion an dem führenden Delfo Cabrera (Argentinien) vorbei.
Doch als der Belgier in die Wembley Arena hineinlief, war er am Ende seiner Kräfte. Etienne, so ist in dem Band „The Complete Book of the Summer Olympics“ nachzulesen, konnte kaum noch einen Schritt vor den anderen setzen. Die Zuschauer fühlten sich an den Marathon 1908 und Dorando Pietri erinnert. Zwei Läufer überholten ihn: Delfo Cabrera, der ebenfalls zum ersten Mal die klassische Distanz rannte, wurde in 2:34:51,6 Stunden Olympiasieger vor Thomas Richards (Großbritannien/2:35:07,6). Etienne Gailly schaffte es aber im Gegensatz zu Dorando Pietri, sich auf den Beinen zu halten. Er erreichte das Ziel noch als Dritter mit 2:35:33,6.
Vom Polytechnic- zum London-Marathon
Schon ein Jahr nach dem ersten olympischen Marathon in London hatte sich in der Stadt ein eindrucksvolles Rennen über die 42,195 km etabliert: der Polytechnic-Marathon. „The Polytechnic“ war die Londoner Universität, die heute „University of Westminster“ heißt. Sie hatte einen Leichtathletik-Klub (Polytechnic Harriers), der mit der Organisation des olympischen Marathons 1908 beauftragt worden war. Aufgrund des enormen Zuschauerinteresses am Olympiarennen lobte daraufhin die Sportzeitung The Sporting Life eine attraktive Trophäe für einen jährlichen Marathon aus und bat die Polytechnic Harriers, ein solches Rennen zu organisieren.
Am 26. Mai 1909 hatte der Polytechnic-Marathon seine Premiere. Das Rennen fand im ersten Jahr auf der olympischen Marathonstrecke von 1908 statt. Der Brite Henry Barrett gewann in 2:42:31 Stunden und war damit deutlich schneller als der Olympiasieger John Hayes im Jahr zuvor. Die Strecke variierte in den folgenden Jahren ein paar Mal.
Am 3. Oktober 1926 lief die Britin Violet Percy in einem Sololauf 3:40:22 Stunden. Obwohl Frauen-Langstreckenläufe noch lange nicht zum Programm der olympischen Wettbewerbe zählten, ist es jene Zeit von Violet Percy, die der Internationale Leichtathletik-Verband (IAAF) als erste Marathon-Weltbestzeit einer Frau listet.
Ab 1938 befand sich das Ziel im neuen Stadion der Polytechnic Harriers in Chiswick, einem Bezirk im Westteil Londons. Dort konnten die Zuschauer zwischen 1952 und 1965 sechs Weltrekorde miterleben. Dreimal in Folge stellte der Brite James Peters eine Bestmarke auf. 1953 blieb er dabei als erster Marathonläufer unter 2:20 Stunden (2:18:40). 1965 gewann der Japaner Morio Shigematsu mit 2:12:00. Das war die achte Weltbestzeit in der Geschichte des Polytechnic-Marathons – kein anderes Rennen kann bis heute mehr vorweisen.
Verkehrsprobleme erschwerten ab etwa 1970 zunehmend die Organisation der Veranstaltung. Zudem, so schreibt der letzte Race-Direktor Ian Ridpath in einem historischen Überblick, konnten sie später mit den aufstrebenden City-Marathonrennen nicht konkurrieren, die als Volksläufe konzipiert waren und zudem den Topathleten teilweise hohe Start- und Preisgelder boten. Die 78. Auflage des Polytechnic-Marathons war 1996 die letzte dieses außergewöhnlichen Rennens.
Längst hatte sich zu dieser Zeit der London-Marathon als einer der weltweit führenden und beliebtesten Straßenläufe etabliert. Die Premiere fand am 29. März 1981 statt. Mehr als 20.000 Läufer wollten teilnehmen, 7.747 wurden zugelassen. Inzwischen ist der London-Marathon auf über 35.000 Teilnehmer gewachsen. Mehr als 170.000 Läufer bewarben sich um eine Startnummer für die vergangene Auflage im April. Ein Losverfahren entscheidet, wer teilnehmen darf.
Große Erfolge hat auch das Charity-Running in der britischen Metropole aufzuweisen. Seit der Premiere 1981 sammelten Läufer des London-Marathons rund 700 Millionen Euro für gemeinnützige Zwecke! Die Veranstaltung wird durch die BBC mittlerweile in mehr als 150 Länder rund um die Welt übertragen; über sechs Millionen TV-Zuschauer verfolgten die Live-Übertragung zuletzt alleine in Großbritannien. Etwa eine Million Zuschauer säumen jedes Jahr die Strecke mit Start in Greenwich und Ziel am Buckingham Palast.
Spitzensportlich ist das City-Rennen seit Jahren ebenfalls hervorragend besetzt. Viermal wurden in der Geschichte der Veranstaltung neue Weltrekorde aufgestellt. Am 13. April 2003 lief die Britin Paula Radcliffe in London 2:15:25 – eine Zeit, die bis heute unerreicht ist.
Die sportbegeisterte Welt freut sich nun auf die spannenden Marathonrennen der Frauen und Männer bei den bevorstehenden Olympischen Spielen.
Marathon-Bestzeiten in London
Männer:
2:55:18 Stunden | John Hayes | USA | Olympische Spiele | 24.07.1908 |
2:42:31 | Henry Barrett | GBR | Polytechnic | 26.05.1909 |
2:38:16 | Harry Green | GBR | Stamford Bridge | 12.05.1913 |
2:36:06 | Alexis Ahlgren | SWE | Polytechnic | 31.05.1913 |
2:20:42 | James Peters | GBR | Polytechnic | 14.06.1952 |
2:18:40 | James Peters | GBR | Polytechnic | 13.06.1953 |
2:17:39 | James Peters | GBR | Polytechnic | 26.06.1954 |
2:14:28 | Leonard Edelen | USA | Polytechnic | 15.06.1963 |
2:13:55 | Basil Heatley | GBR | Polytechnic | 13.06.1964 |
2:12:00 | Morio Shigematsu | JPN | Polytechnic | 12.06.1965 |
2:05:38 | Khalid Khannouchi | MAR | London-Marathon | 14.14.2002 |
Frauen:
3:40:22 Stunden | Violet Percy | GBR | Chiswick | 03.10.1926 |
2:25:29 | Grete Waitz | NOR | London-Marathon | 17.04.1983 |
2:21:06 | Ingrid Kristiansen | NOR | London-Marathon | 21.04.1985 |
2:15:25 | Paula Radcliffe | GBR | London-Marathon | 13.04.2003 |
Erschienen am 25. Juli 2012
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- Erschienen am 25. July 2012