Marathon-Weltmeister Stephen Kiprotich: Inspiration vor der Haustür

Von Jörg Wenig

Stephen Kiprotich wurde in Moskau Marathon-Weltmeister. © www.PhotoRun.net
Stephen Kiprotich wurde in Moskau Marathon-Weltmeister. © www.PhotoRun.net
Stephen Kiprotich hat eindrucksvoll bewiesen, dass er ein großer Meisterschaftsläufer ist. Im vergangenen Jahr wurde der 24-Jährige aus Uganda überraschend Marathon-Olympiasieger, in Moskau fügte er jetzt diesem großartigen Erfolg noch das Weltmeisterschafts-Gold über die klassische Distanz hinzu. Bei den Titelkämpfen gewann Stephen in 2:09:51 Stunden. Er war der einzige, der bei warmem Wetter eine Zeit unter 2:10 Stunden erreichte.

„Ich bin froh, dass ich heute wieder eine sporthistorische Leistung für mein Land erbringen konnte. Heute habe ich bewiesen, dass ich ein wirklicher Champion bin und alle schlagen kann“, erklärte Stephen gegenüber der Webseite des internationalen Leichtathletikverbandes (iaaf.org). „Die Wetterbedingungen waren schwierig, aber ich war entschlossen, denn ich wusste, dass dies die einzige Chance für Uganda sein würde, bei diesen Weltmeisterschaften eine Medaille zu gewinnen.“ Es war überhaupt erst die zweite Goldmedaille für Uganda in der Geschichte der Weltmeisterschaften, die 1983 begann. 2005 hatte Dorcus Inizikuru das 3.000-Meter-Hindernisrennen der Frauen gewonnen, das damals zum ersten Mal auf dem WM-Programm stand.

Stephen ist als zweitjüngstes von sieben Kindern in ärmlichen Verhältnissen in dem Dorf Cheptiyal in Uganda aufgewachsen. Zum Laufen motiviert wurde er quasi vor seiner Haustür. Während seines Trainings rannte Francis Musani, ein nationaler Marathonläufer, in der Nähe vorbei. „Ich sah ihn mit anderen zusammen trainieren, und das weckte mein Interesse“, erzählte Stephen, der dann in der Grundschule mit dem Laufen begann. Doch eine nie hinreichend diagnostizierte Krankheit stoppte ihn für lange Zeit. Drei Jahre lang konnte er nicht zur Schule gehen. Als es ihm wieder besser ging, konzentrierte Stephen sich zunächst auf das Lernen.

Stephen, hier vorne rechts zu sehen, zeigte in Russland, dass er ein hervorragender Meisterschaftsläufer ist. © www.PhotoRun.net
Stephen, hier vorne rechts zu sehen, zeigte in Russland, dass er ein hervorragender Meisterschaftsläufer ist. © www.PhotoRun.net
Erst Anfang 2006 begann er wieder mit dem Lauftraining und hatte schnell Erfolg. Bei den nationalen Crossmeisterschaften qualifizierte er sich für die Cross-WM der Junioren. Als gerade erst 17-Jähriger startete Stephen in Fukuoka (Japan) 2006 und belegte Rang 24. Ende des Jahres beendete er dann die Schule vorzeitig. Laufen statt Lernen stand nun für ihn im Vordergrund. Bald darauf kam die Verbindung zur Management-Gruppe des Holländers Jos Hermens zustande, und Stephen trainierte fortan in Kenia. Noch heute gehört er zu der Gruppe von Patrick Sang in Kaptagat, in der eine Reihe kenianischer Weltklasse-Marathonläufer trainiert. Darunter sind Athleten wie Emmanuel Mutai, der London-Marathon-Sieger des Jahres 2011, der ehemalige 5.000-m-Weltmeister Eliud Kipchoge, der in diesem Frühjahr sein Marathondebüt in Hamburg in 2:05:30 gewann, sowie Kontrahenten aus Moskau wie Nicholas Kipkemboi oder Bernard Kipyego.

Mit Hilfe von Manager Jos Hermens startete Stephen in der Saison 2007 zum ersten Mal bei kleineren europäischen Leichtathletik-Meetings. Er erreichte dann internationales Format über die Bahn-Langstrecken, Straßenrennen und im Crosslauf, ohne jedoch herausragende Leistungen zu zeigen. Das änderte sich im Jahr 2011, als er im April sein Marathon-Debüt lief. Eigentlich sollte er in Enschede (Niederlande) lediglich als Tempomacher an den Start gehen, doch Stephen beendete das Rennen und gewann es sogar. In 2:07:20 Stunden hatte er nicht nur einen Landesrekord aufgestellt, sondern war fast zweieinhalb Minuten schneller als der Zweitplatzierte. Daraufhin wurde er für die WM in Daegu (Süd-Korea) nominiert, wo er in extremer Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit einen beachtlichen neunten Platz erreichte.

Ein halbes Jahr später belegte Stephen in Tokio (Japan) mit 2:07:50 Stunden Platz drei und qualifizierte sich damit für den olympischen Marathon. Dass er damals einen Rang vor Äthiopiens Lauf-Legende Haile Gebrselassie das Ziel erreichte, war für den Läufer aus Uganda richtungweisend. „Dieses Ergebnis hat mir sehr viel Mut gemacht. Jetzt bin ich zuversichtlich, dass ich die besten der Welt schlagen kann“, erklärte Stephen vor den Olympischen Spielen. In London lief er dann – genau 40 Jahre, nachdem der 400-m-Hürdenläufer John Akii-Bua in München 1972 das bis dahin einzige olympische Gold für Uganda gewonnen hatte – zum überraschenden Sieg. Seitdem ist Stephen in seiner Heimat ein gefeierter Superstar und der bekannteste Sportler des Landes.

Wie Medien in Uganda berichteten, erhielt Stephen vom Staatspräsidenten Yoweri Museveni nicht nur finanzielle Unterstützung für den Olympiasieg, sondern es wurde außerdem ein Haus für seine Eltern gebaut. Zudem sorgte das Staatsoberhaupt dafür, dass Stephen, der als Gefängniswärter angestellt war, befördert wurde. Die meiste Zeit ist der Marathonläufer, dessen Heimatort heute Kapchorwa ist, allerdings ohnehin für das Training im nahen Kenia freigestellt. „Der Olympiasieg hat mein Leben in mancherlei Hinsicht verändert. Aber zu Hause bin ich immer noch so wie früher. Jeder kennt mich jetzt in Uganda, aber ich habe mich nicht verändert.“

Im April nahm Stephen am London-Marathon teil. © www.PhotoRun.net
Im April nahm Stephen am London-Marathon teil. © www.PhotoRun.net
Im Frühjahr startete Stephen beim hervorragend besetzten Virgin London-Marathon. Doch das über lange Zeit sehr hohe Tempo scheint ihm im Gegensatz zu den taktischen, oft langsameren Meisterschaftsrennen, nicht so gut zu liegen. Er kam als Sechster in 2:08:05 ins Ziel. „Es war das härteste Rennen meiner Karriere“, sagte Stephen, dessen Bestzeit noch immer bei jenen 2:07:20 steht, die er bei seinem Debüt erzielte.

Angesichts seines Resultates vom London-Marathon im April galt Stephen in Moskau nicht als großer Favorit. Mit seinem WM-Gold löste er dann erneut Jubelstürme in seiner Heimat aus. In Kapchorwa, so berichtet die Tageszeitung „New Vision“, sollen die Menschen mehrere Tage lang Straßenfeste gefeiert haben. Als Stephen am Dienstag am Flughafen Entebbe ankam, erwartete ihn ein Staatsempfang. Als sich die Autokolonne vom Flughafen in Bewegung setzte, säumten Menschenmassen die Straßenränder, um dem Weltmeister zuzujubeln.

Eine weitere Beförderung wurde Stephen versprochen. Doch, so berichtet „New Vision“, trotz der Begeisterung um seine Person war der Weltmeister einmal mehr besorgt. Schon nach seinem Olympiasieg hatte er gegenüber Funktionären und Politikern seines Landes gesagt: „Ich will die Gelegenheit nutzen und dem Leichtathletik-Verband von Uganda sowie dem Sportminister eine Botschaft zukommen zu lassen: Das Problem, das wir haben, ist, dass es keine Sportstätten gibt. Es wurde immer wieder versprochen, welche zu errichten – aber das ist nie passiert. Aufgrund dieses Problems war ich gezwungen, zum Training nach Kenia zu gehen.“ Am Dienstag fragte Stephen noch einmal nach, was mit dem geplanten Höhentrainingslager nun sei. Der Premierminister Amama Mbabazi versicherte daraufhin, dass die Anlage gebaut werde. Sie soll den Namen Stephen Kiprotich erhalten.