Irina Mikitenko: Ein Portrait von Deutschlands Marathon-Olympiahoffnung

Von Jörg Wenig
Irina Mikitenko bei ihrem Sieg beim London-Marathon. © www.photorun.net
Irina Mikitenko bei ihrem Sieg beim London-Marathon. © www.photorun.net

Der Sport, den Irina Mikitenko zuerst betrieb, war der Eiskunstlauf. Schon mit fünf Jahren stand sie auf Schlittschuhen, dann spezialisierte sie sich auf das Paarlaufen. „Im Eiskunstlauf beginnt man sehr früh“, erzählt die deutsche Siegerin des London-Marathons 2008, die bei den Olympischen Spielen durchaus für eine Überraschung sorgen könnte. Als sie als Zwölfjährige in ein Sportinternat in einem anderen Teil von Kasachstan gehen sollte, um eine Eiskunstlauf-Karriere aufzubauen, wollten sie und ihre Eltern das nicht. „Es wäre zu weit weg gewesen von zu Hause, und mit zwölf Jahren war das zu früh“, erzählt Irina Mikitenko, die sich dann der Leichtathletik zuwandte. „Leichtathletik ist die einfachste Sportart, die es gibt. Ich war immer gut im Laufen und habe in der Schule stets gewonnen.“

Irina Mikitenko wurde zunächst Mittelstreckenläuferin und hatte auch hier Erfolg: Für Kasachstan startete sie im September 1995 bei den Zentralasiatischen Spielen in Taschkent (Usbekistan) über 1.500 m und gewann die Goldmedaille in 4:25,4 Minuten. Ein Jahr später lief sie zum ersten Mal bei den Olympischen Spielen: In Atlanta verpasste sie über 5.000 m als Elfte ihres Vorlaufes das Finale.

Unmittelbar nach der Rückkehr aus Atlanta zog die Familie nach Deutschland um. Die Urgroßeltern von Irina Mikitenko kamen einst, vor dem ersten Weltkrieg, aus dem Nordwesten Deutschlands nach Kasachstan. Dadurch hatten die Eltern der Läuferin noch einen deutschen Pass. Familie Mikitenko wohnt in Freigericht (Hessen), ganz in der Nähe von Gelnhausen. Dieser Ort ist bekannt für einen früheren deutschen Leichtathletik-Star: Harald Schmid. Der deutsche Rekordhalter über 400 m Hürden half den Mikitenkos als sie nach Deutschland kamen und vermittelte unter anderem Alexander Mikitenko eine Arbeit. Auch heute noch besteht eine enge Verbindung zwischen Mikitenko und Schmid. Seit ihrem Wechsel nach Deutschland ist ihr Mann Alexander auch ihr Trainer. Die beiden hatten sich in Alma-Ata beim Sport kennen gelernt. Früher war Alexanders Vater Leonid der Coach von Irina Mikitenko, die Sport studierte und ausgebildete Sportlehrerin ist.

1998 startete Irina Mikitenko erstmals für Deutschland: Über 10.000 m wurde sie bei der EM Achte, vier Jahre später belegte sie bei diesen Titelkämpfen über die 25-Runden-Distanz Rang neun. Doch es waren in erster Linie die 5.000 m, über die Irina Mikitenko bei den großen internationalen Höhepunkten eine Reihe von Top-Platzierungen erreichte. Bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney rannte Irina Mikitenko auf Rang fünf, vier Jahre später in Athen belegte sie Platz sieben. Die mehrfache deutsche Langstrecken-Rekordlerin hat bei Weltmeisterschaften zudem die Plätze vier (1999) und fünf (2001) über 5.000 m belegt. Über Jahre hinweg war Irina Mikitenko bei den großen internationalen Höhepunkten immer wieder die beste deutsche Läuferin. Seit 1999 ist sie die deutsche Rekordhalterin über 5.000 m. Dreimal steigerte sie diese Marke in jenem Jahr auf schließlich 14:42,03 Minuten. Ein Jahr später brach Irina Mikitenko zudem den deutschen 3.000-m-Rekord mit 8:30,39. Ihre Bestzeit über die 10.000 m liegt bei erstklassigen 31:29.55 Minuten (2001), doch in der Folge fehlte ihr ein ideales Rennen, um diese Zeit weiter zu verbessern.

Nach der Geburt ihres zweiten Kindes im Juli 2005 konzentrierte sich Irina Mikitenko seit ihrem Comeback auf die Straßenrennen und bereitete langfristig ihr Marathondebüt vor. Dieses lief sie dann in Berlin im September 2007 mit Bravour: Als Zweite, nur geschlagen von Äthiopiens Weltklasseläuferin Gete Wami, kam sie ins Ziel in hochklassigen 2:24:51 Stunden. Es war das mit Abstand schnellste Marathondebüt einer deutschen Läuferin aller Zeiten. „Ich war vorher mental noch nicht bereit für den Marathon“, antwortete Irina Mikitenko auf die Frage, warum sie nicht schon eher einen Marathon-Versuch unternommen hat. „Jetzt aber ist der Marathon meine Disziplin.“

Bei ihrem zweiten Rennen über die 42,195 km entschied sich Irina Mikitenko für den hochkarätigen London-Marathon im April 2008: „Wenn man immer nur in Deutschland läuft, kann man sich nicht weiterentwickeln. Es ist natürlich angenehm, wenn man hier startet: Da kannst du mit dem eigenen Auto zum Wettkampf fahren, du bekommst deine eigenen Tempomacher für das Rennen und dein Trainer darf dich während des Laufes auf dem Fahrrad begleiten.“ Das alles gibt es in London nicht. Und gerade deswegen fuhr Irina Mikitenko dort hin, obwohl sie nicht einmal Englisch spricht. In London schaffte sie mit ihrem Sieg in 2:24:14 Stunden eine Sensation und stürmte in die Marathon-Weltelite.

Irina Mikitenko ist erst die zweite deutsche Siegerin des London-Marathons nach Katrin Dörre-Heinig, die das Rennen dreimal zwischen 1992 und 1994 gewonnen hatte. Es ist zudem der erste deutsche Sieg bei einem der World Marathon Majors (WMM)-Rennen seit 1996. Damals hatte Uta Pippig beim 100. Boston-Marathon triumphiert. Irina Mikitenko verbesserte in dem Lauf auch den deutschen Rekord von 2:24:35 Stunden, den Katrin Dörre-Heinig 1999 in Hamburg aufgestellt hatte. Die schnellste deutsche Zeit allerdings lief Uta Pippig 1994 in Boston mit 2:21:45. Da in Boston Start und Ziel weit auseinander liegen (Punkt-zu-Punkt-Strecke), werden diese Ergebnisse nach den aktuellen Regeln nicht mehr als offizielle Rekorde geführt.

Die Familie spielt eine entscheidende Rolle beim Erfolg von Irina Mikitenko. Während ihre Eltern keine leistungssportliche Vergangenheit haben, ist das in der Familie ihres Mannes Alexander ganz anders: Irina Mikitenkos Schwiegervater Leonid hatte 1966 bei den Europameisterschaften eine Bronzemedaille über 10.000 Meter gewonnen. Er hatte Bestzeiten von 13:36,4 und 28:12,4 Minuten über 5.000 und 10.000 Meter.

Leonid Mikitenko trainierte in Alma-Ata seinen Sohn Alexander, der 1994 über 5.000 m eine Zeit von 13:39,95 erreichte. Nachdem sich Irina und Alexander beim Sport kennen gelernt hatten, übernahm der Vater auch die Betreuung der Läuferin. Schon damals trainierte die Gruppe zeitweise in der Höhe im nahe gelegenen Kirgisistan. Dorthin reiste Irina Mikitenko im Frühjahr 2008 auch in der Vorbereitung für den London-Marathon. Arrangiert hatte dieses Trainingslager ihr Schwiegervater. Und während ihre zweieinhalbjährige Tochter Vanessa in dieser Zeit bei den Schwiegereltern blieb, war ihr 14-jähriger, schulpflichtiger Sohn Alexander bei ihren Eltern in der Nähe ihrer deutschen Heimat in Freigericht (Hessen) untergebracht.

Die Koordination des Familienlebens ist neben dem umfangreichen Training nicht immer einfach. Und häufig ist Irina Mikitenko dabei auf die Hilfe der Familie angewiesen, denn ihr Mann und Coach Alexander ist als Metallarbeiter im Schichtdienst voll berufstätig. „Ich bin es gewohnt, Trainingseinheiten alleine zu laufen – besonders die am Vormittag“, erzählt Irina Mikitenko. Auf die familiäre Unterstützung kann sich die London-Marathon-Siegerin verlassen. Als im Vorfeld des London-Rennens im Kindergarten die Erkältungsviren umher flogen, sprang sogar ihr 14-jähriger Sohn ein und passte auf seine zweieinhalbjährige Schwester auf, damit seine Mutter trainieren konnte. Irina Mikitenko wollte vor dem Marathon keine Ansteckung riskieren und ließ die Tochter zu Hause. Ihre Mutter, die teilweise auch mit ins Trainingslager fährt, um auf die kleine Vanessa aufzupassen, war zu dieser Zeit selber erkältet. Das Lauf-Familienunternehmen Mikitenko funktioniert.