Der erste Marathon – auch 2.500 Jahre später ein faszinierendes Erlebnis
Von David Wright
Wenn Sie das nächste Mal bei einem Marathonlauf auf den Startschuss warten, dann stellen Sie sich doch einmal Folgendes vor: Sie würden in diesem Augenblick vermutlich etwas sehr viel weniger Aufregendes tun, hätte nicht vor 2.500 Jahren ein kleines Heer unerschütterlicher Krieger einen sensationellen Sieg gegen eine zahlenmäßig deutlich überlegene Armee errungen. Der Name Pheidippides wäre gänzlich unbekannt und die magische Veranstaltung, nämlich der Marathonlauf, den der junge Krieger durch seinen Einsatz ganz nebenbei ins Leben gerufen hatte und der sich mittlerweile zur beliebtesten und herausforderndsten Laufveranstaltung entwickelt hat, würde gar nicht existieren.
Historiker zweifeln hinsichtlich des Wahrheitsgehalts der Legende vom griechischen Soldaten, der von Marathon nach Athen gelaufen sein soll, um den unerwarteten Sieg seines Landes über die Perser zu verkünden und unmittelbar nach seiner Verkündigung tot zusammenbrach.
Für Paul Cartledge, Professor für griechische Kultur an der Cambridge University in Großbritannien, steht fest: Pheidippides hat maßgeblichen Anteil an der heutigen Bedeutung des Marathons, der Millionen Läufer rund um den Globus jedes Jahr aufs Neue begeistert. „Was wäre gewesen, hätten die Perser gewonnen”, fragt er. „Nun, es gäbe jedenfalls keinen Mythos vom Lauf von Marathon nach Athen, um den Sieg zu verkünden, folglich gäbe es auch keinen Athen-Marathon von 1896, keinen Boston-Marathon von 1897 und die Welt wäre ein Stück weit trostloser und weniger fit.”
Wer war eigentlich dieser Mann, dem wir Läufer so viel zu verdanken haben, und was genau soll Pheidippides der Legende nach im Jahr 490 v. Chr. getan haben?
Wir können seinen historischen Fußstapfen durch das einst unwegsame Gebiet zwischen Marathon und Athen folgen, so wie dies auch die etwa 12.500 Läufer aus aller Welt tun werden, die am 31. Oktober 2010 im Rahmen des 2.500-jährigen Marathonjubiläums beim Athens Classic Marathon über die 42,195 Kilometer an den Start gehen. (Wie alle heutigen Marathonläufer rennen sie etwas weiter als Pheidippides zu jener Zeit. Doch wer hat die Strecke eigentlich verlängert und aus welchem Grund? Mehr dazu später.)
Die Perser – ihr Reich galt als das mächtigste der Welt und reichte von Asien nach Ägypten bis hin zur Türkei – landeten mit einer bis zu 30.000 Mann starken Infanterie in der nordöstlich von Athen gelegenen Bucht von Marathon und planten von dort aus die schrittweise Eroberung Europas. Den Persern zahlenmäßig 4:1 unterlegen, beschlossen die verzweifelten Athener, dass sie sich nur mithilfe Spartas retten konnten. Doch wie sollte man die Spartaner alarmieren?
Die Wahl fiel auf Pheidippides, einen jungen und bewährten Meldeläufer. Er wurde losgeschickt, die 225 Kilometer über schroffes, bergiges Gelände zu laufen, um die Spartaner um Hilfe zu bitten. Der Legende nach soll er diese Distanz in rund 36 Stunden zurückgelegt haben – doch nur um dort zu hören: „Wir würden euch ja gerne helfen, aber wir können erst bei Vollmond kommen.” (Die Religionsgesetze der Spartaner verboten ihnen einen früheren Angriff.) Pheidippides machte auf dem Absatz kehrt und rannte die 225 Kilometer zurück, um seinen Generälen mitzuteilen, dass die zahlenmäßig unterlegenen Athener alleine in den Kampf ziehen müssten. Nahezu ohne Verschnaufpause legte er seine Rüstung an und zog mit seinen Kameraden in die ungleiche Schlacht in der Ebene von Marathon.
Dennoch holte die schwere Infanterie der Athener zum ersten Schlag aus. Mit dem Ziel, den Gegner zu überraschen, rannten die Soldaten in einem halsbrecherischen Manöver rund anderthalb Kilometer, jeder von ihnen mit bis zu 30 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken, bevor sie die leichter bewaffnete und unvorbereitete persische Armee angriffen. Die Invasoren waren diesem Angriff nicht gewachsen. Am Ende des Tages hatten 6.400 Perser ihr Leben gelassen, auf der athenischen Seite waren es 192 Soldaten. Besorgniserregend war jedoch, dass die überlebenden Perser zurück zu ihren Schiffen flüchteten und Kurs nach Süden nahmen, um aus dieser Richtung einen Angriff auf Athen zu starten. Noch heute, 2.500 Jahre später, kann man sich den verzweifelten Befehl des athenischen Generals vorstellen: „Bringt Pheidippides zu mir!”
Diesmal lautete der Befehl nach Athen zu laufen, um dort den Sieg von Marathon zu verkünden und die Stadt vor der herannahenden persischen Flotte zu warnen. Obwohl Pheidippides den ganzen Tag in schwerer Rüstung gekämpft hatte, machte er sich sofort auf den Weg, der nach Auffassung vieler Historiker ungefähr 40 Kilometer lang war. Geschichtserzählungen zufolge, erreichte er Athen nach erstaunlichen drei Stunden, verkündete dort die Nachricht über den Sieg sowie das drohende Desaster und fiel auf der Stelle tot um – höchstwahrscheinlich vor Erschöpfung. Zum Glück war sein Tod nicht vergebens: Die Vollmondphase war fast erreicht, spartanische Truppen waren rechtzeitig zur Stelle, um Seite an Seite mit den Athenern die Perser ein für allemal in die Flucht zu schlagen und die Demokratie zu retten.
Am 31. Oktober dieses Jahres starten die Teilnehmer des Athen-Marathons auf dem einstigen Schlachtfeld von Marathon, umrunden die Gedenkstätte, die das Grab von Pheidippides markiert, bevor sie seinem Geist über den anspruchsvollen, hügeligen Kurs nach Athen folgen. Bei diesem herausragenden Laufevent werden Spitzenathleten wie Isaac Macharia und Jonathan Kipkorir aus Kenia mit von der Partie sein. Passend zu diesem besonderen Anlass wurden drei Läufer zur Teilnahme an den Feierlichkeiten eingeladen, die ihrerseits Legenden sind: Die US-Amerikanerin Kathrine Switzer, die den Langstreckenlauf für Frauen propagierte und 1967 am Boston-Marathon teilgenommen hatte und damit in eine bis dahin reine Männerdomäne eingebrochen war, der Brite Ron Hill, der frühere Boston-Gewinner, und der Deutsche Waldemar Cierpinski, der zweimal olympisches Marathon-Gold holte.
Zum Schmunzeln: Wenn der abenteuerliche Lauf Pheidippides’ vor 2.500 Jahren ungefähr 40 Kilometer lang war, warum müssen wir heute oft qualvoll gut zwei weitere Kilometer bewältigen? Verantwortlich dafür ist eigentlich die englische Königin! Denn bei den Olympischen Spielen 1908 in London wollten die Organisatoren den Startpunkt für den Marathonlauf vor dem eindrucksvollen Hintergrund von Schloss Windsor platzieren. Die königliche Loge im Stadion befand sich jedoch auf der gegenüberliegenden Seite des Ziels und Königin Alexandra ließ mitteilen, dass der Zieleinlauf doch bitte direkt vor ihrer Loge stattfinden möge. Kein Problem – so wurden einfach noch einige Meter dazugenommen.
Und die Menschen fragen sich, wie der Marathon zu solch einer Legende werden konnte!
Erschienen am 26. Oktober 2010
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- Erschienen am 26. October 2010