Comeback der 100 Jahre alten Trophäe von Mike Ryan beim Boston-Marathon 2012

Von David Wright

Der Silberpokal des Boston-Marathons 1912. © www.photorun.net
Der Silberpokal des Boston-Marathons 1912. © www.PhotoRun.net

Ihm wurde schon so manche Art der Verwendung zuteil: als simpler Türstopper, Blumenkübel und Museumshüter. Doch als der Pokal schließlich auf dem jährlich im Rahmen des Boston-Marathons stattfindenden Treffen legendärer Marathonläufer am 14. April 2012 enthüllt wurde, erntete er große Bewunderung und stellte darüber hinaus eine 100 Jahre alte Verbindung zu der ruhmreichen Vergangenheit des traditionsreichen Rennens her.

Restauriert und auf Hochglanz poliert, so wurde der Pokal, den Mike Ryan beim Boston Marathon 1912 gewann – Matsch und Regen trotzend und fast ohne Chance auf eine Rekordzeit –, von seinen stolzen Nachkommen beim diesjährigen „Breakfast of Champions“ der Boston Athletic Association präsentiert. „Ich habe ein Tuch eingepackt, für den Fall, dass er noch einmal nachpoliert werden müsste”, erzählte Bill Ryan, der 53 Jahre alte Enkelsohn von Mike Ryan, im Gespräch mit Take The Magic Step® – und zog es mit einem Grinsen aus seiner Tasche.

Mike Ryan, hier links im Bild. © Von Familie Ryan zur Verfügung gestellt
Mike Ryan, hier links im Bild. © Von Familie Ryan zur Verfügung gestellt

Genau vor 100 Jahren kamen 123 Läufer aus ganz Amerika nach Boston, um bei der 16. Auflage des Rennens dabei zu sein. Mike Ryan war 23, mit etwa 1,80 Meter recht groβ für die damalige Zeit und wog 70 Kilogramm – und er hatte ein Ziel. Beim Olympia-Marathon 1908 musste er vorzeitig aus dem Rennen gehen und jetzt, 1912, bekam er eine zweite Chance. Die ersten drei Läufer, die in Boston die Ziellinie überqueren, würden zu den Olympischen Spielen nach Stockholm reisen. Also machte Mike sich auf den Weg von seinem Zuhause Hell’s Kitchen, einem irischen Ghetto in New York, um sich „einem Feld der schnellsten Marathonläufer anzuschließen, die sich jemals in diesem Land versammelt haben“, so die Worte eines Reporters der Zeitung Trenton Evening Times. Begleitet wurde die Aufregung um das Rennen von weiteren Schlagzeilen: Vier Tage vor dem Boston-Marathon war die Titanic gesunken, 1.512 Menschen ließen dabei ihr Leben. Am Tage nach dem Marathon wurde das Stadion „Fenway Park“ eröffnet, das nagelneue Zuhause der Baseball-Mannschaft ‚Boston Red Sox‘.

Auf einer schlammigen Straße zwischen kahlen Bäumen warten 123 Männer auf den Start des Boston-Marathons 1912. © Von Familie Ryan zur Verfügung gestellt
Auf einer schlammigen Straße zwischen kahlen Bäumen warten 123 Männer auf den Start des Boston-Marathons 1912. © Von Familie Ryan zur Verfügung gestellt

Die Startlinie befand sich damals nicht in Hopkinton, so wie heute, sondern in Ashland. Der Kurs war mit 39,428 km etwas kürzer und wurde erst im Jahr 1924 auf die standardisierte olympische Distanz von 42,195 km erweitert.

In der Nacht vor dem Rennen hatte es heftig geschneit. Zudem hatte Dauerregen die meist unbefestigte Strecke in eine Rutschbahn aus Schlamm und Matsch verwandelt. Der Untergrund war so rutschig, dass die Läufer nach Möglichkeit auf die Gehwege auswichen, um besseren Halt zu finden. „Noch nie zuvor war die Strecke in einem so schlechten Zustand“, berichtete der Reporter der Trenton Evening Times. „Unter diesen Umständen war es schon eine großartige Leistung der Läufer, überhaupt durch das Rennen zu kommen.“

Johnny Gallagher, Erstsemester an der Yale-University, übernahm früh die Führung, doch Andrew Sockalexis, ein 20 Jahre alter Penobscot-Indianer aus Main, überholte ihn nahe dem Cleveland Circle. Dann, nur zwei Meilen vor dem Ziel, kam Ryan von hinten, zog an Sockalexis vorbei – und überquerte mit 34 Sekunden Vorsprung die Ziellinie. Mit seiner Zeit von 2:21:18 Stunden stellte er einen Boston-Marathon-Rekord auf, der in den folgenden zehn Jahren unerreicht blieb. Zudem unterbot er den im Vorjahr aufgestellten Rekord der Boston-Legende Clarence DeMar um 21 Sekunden.

Nach fünf Versuchen und dem vierten Platz als bestes Ergebnis war es Mike nun endlich gelungen, den prächtigen silbernen Siegerpokal nach Hause zu bringen.

Mike Ryan führte das amerikanische Marathon-Team nach Stockholm. Doch am Renntag herrschten Temperaturen von über 32 Grad Celsius – 100 Jahre später, waren die Läufer in Boston den gleichen Strapazen ausgesetzt – und wieder musste er vorzeitig aus dem Rennen aussteigen. Bald danach gab er den aktiven Rennsport auf und startete eine erfolgreiche Karriere als Trainer. Mike Ryan starb 1971 im Alter von 82 Jahren.

Und was wurde aus dem Siegerpokal von Boston? „Eine Zeitlang diente er als Türstopper im Hause meiner Großeltern“, erzählte der Enkel Bill Ryan gegenüber Take The Magic Step. „Später pflanzte meine Großmutter dann Blumen hinein.“ Irgendwann ging er als Leihgabe an ein Sportmuseum in Los Angeles, wo er dann 15 Jahre lang mehr oder minder unbeachtet ausgestellt war. Schließlich holte Mikes letzter noch lebender Bruder, der mittlerweile 90-jährige Bob Ryan, den Pokal im Jahr 2002 in sein Haus nach Sacramento, um ihm dort einen würdigen Platz zu geben. „Bobs erst kürzlich verstorbene Frau kümmerte sich um die Pflege der Trophäe“, erzählte Bill weiter.

Mike Ryans Nachkommen. © www.photorun.net
Mike Ryans Nachkommen. © www.PhotoRun.net

Am 14. April kamen mehr als 50 Nachkommen der Familie Ryan zum 100. Jahrestag nach Boston – und sie hatten die auf Hochglanz polierte Trophäe im Gepäck, die für große Überraschung beim „Breakfast of Champions“ 2012 sorgte. Um den Kreis nach einem Jahrhundert zu schließen, starteten vier von Mike Ryans Ur-Enkeln beim Boston-Marathon 2012. Einer von ihnen trägt den berühmten Namen seines Ur-Großvaters: Mike Ryan, ein 34-jähriger leitender Angestellter einer Fluggesellschaft aus Flower Mound in Texas/USA, der nach 3:12:13 Stunden die Ziellinie überquerte. „Es erfüllt mich mit Stolz, Teil dieser Geschichte zu sein“, sagte er gegenüber Dallasnews.com. „Die Chance, eine solche Erfahrung mit so vielen von Mike Ryans Nachkommen zu teilen, konnten wir uns einfach nicht entgehen lassen.“

Es gibt noch eine weitere Verbindung zwischen dem Mike Ryan von vor 100 Jahren und dem heutigen Boston. Ryan Hall, der amerikanische Marathon-Rekordhalter und Viertplatzierte in Boston 2011, war nach ihm benannt worden. Ausschlaggebend für die Namensgebung war, dass Ryan Halls Eltern eng mit der Familie von einem von Mike Ryans Enkelkindern befreundet sind.

Im Sommer wird Ryan Hall in die Fußstapfen seines Namensvetters treten und als Mitglied des US-amerikanischen Marathon-Teams zu den Olympischen Spielen nach London reisen.

Erschienen am 9. Mai 2012
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