Running for Indians

Die Nacht vor dem Rennen hat Djamal schlecht geschlafen. „Ich habe vor Aufregung die Augen nicht zugekriegt“, erzählt er. Er dachte an die Indianer, von denen sie in der Schule erzählt haben. Die in den Regenwäldern Südamerikas leben, abseits der Zivilisation. Die Frau, die ihnen in der Schule von einem Indianerdorf in Peru erzählt hat, berichtete von Kindern, bei denen sich die Augen entzündet hatten, „so dass das ganze Auge rot war, nur die Pupille nicht“, erzählt Djamal. Er hat auch von fauligem Wasser gehört, dass die Indianerkinder trinken und weshalb sie dicke Bäuche bekommen. Vor allem fehlt es dem Indianerstamm an medizinischer Versorgung und schulischen Bildungsangeboten.

Beim Spendenlauf wollen die Kinder von Djamals Schule Geld für einen Indianerstamm in Peru sammeln. Für jede Runde, die Djamal schafft, bekommt er etwas Geld – von seinen Eltern, Verwandten und Freunden. Die meisten seiner Schulkameraden laufen zehn oder zwölf, manche 15 Runden. Eine Runde ist etwa 800 Meter lang. Djamal quält sich. Er schwitzt und kämpft mit zusammengepressten Lippen Meter für Meter. Vor allem die Arme schmerzen, die Schultern brennen. Unterwegs denkt er daran, wie er mit seinen Freunden „Räuber und Gendarm“ spielt, wie sie sich gegenseitig fangen und jagen. Das hilft ihm bei jeder Runde. Insgesamt schafft er acht mal 800 Meter.

Djamals sitzt im Rollstuhl. Der Achtjährige hat eine unheilbare Muskelschwäche und wird in seinem Leben nie wieder laufen können. Er weiß, wie es sich anfühlt, auf seinen eigenen Beinen zu stehen – er hat noch laufen gelernt, bevor er krank wurde. Er weiß auch, dass er nie wieder so laufen wird, wie seine Freunde. Doch dass er dabei sein kann und genauso wie seine Freunde Geld sammelt, macht es ihm leicht, es als selbstverständlich hinzunehmen, im Rollstuhl zu sitzen. Als er unterwegs war, dachte er ein paar Mal an seinen elektrischen Rollstuhl:

„Natürlich geht es mit dem leichter”, sagt Djamal, „aber manchmal spinnt der auch.” Doch er weiß, dass es ihm gut tut, auch mit dem Rollstuhl zu fahren, den er selbst bewegen muss. „Das macht meine Organe und meine Lunge stark”, doziert Djamal. Auch Clara ist mitgelaufen. Sie sagt, sie sei schon nach einer Runde „super erschöpft” gewesen. Die Beine taten weh, die Puste war weg. „Doch ich hab den Schmerz verkniffen”, sagt sie. Die Runden, stöhnt sie selbst noch am Tag danach, kamen hier unendlich lang vor.

Tatsächlich muss Clara mehr als jeder andere jede einzelne Runde gefühlt haben. Sie wird mehr als jeder andere wissen, wie lang und schwer sich 800 Meter anfühlen. Die siebenjährige Clara ist blind. Überrascht haben dürfte sie ihre Eltern nicht, als Clara ihnen am Abend nach dem Spendenlauf erzählte, dass sie vier Runden geschafft hat. „Wir versuchen, Clara so viel Sport wie möglich treiben zu lassen”, sagt ihr Vater. Clara schwimmt, fährt Skateboard und Inliner, joggt. Überredungskünste brauche es dabei kaum. Ein „Los geht’s, Laufschuhe an” genüge, um Clara zum Joggen zu überreden – nicht lange, vielleicht 20 Minuten und zehn Minuten als Spaziergang nach Hause, bei dem fleißig gequatscht wird.

Wie jedes andere Kind entwickelt Clara durch die spielerische Bewegung ein Gefühl für ihren Körper und motorische Fähigkeiten. „Wir merken einfach, dass es ihr gut tut, wenn sie sich bewegt, dass sie Spannungen abbaut und Glücksmomente hat”, sagt Claras Vater. „Der größte Hit, auch für die Kinder aus der Nachbarschaft, ist ein Trampolin in unserem Garten”, erzählt er. Jeder Sprung löse Endorphine aus. Clara schafft es sogar, selbst auf dem Trampolin Seil zu springen. Berührt das Seil den Boden, schellt eine kleine Glocke und Clara weiß, dass es Zeit für den Sprung ist. Sechs bis acht Sprünge schafft sie hintereinander. „Viele Blinde scheuen sich vor Bewegung”, weiß Claras Vater. Doch für ihn und seine Frau war es nie schwer, Clara für Sport zu begeistern: Clara hat einen Zwillingsbruder – die ganz natürliche, brüderliche Animation für Sport und Spiel. „Wir geben uns größte Mühe, Clara in Bewegung zu halten,” meint ihr Vater. Er finde, es sei nichts Besonderes, was seine Tochter leistet. Aber dass sie im vergangenen Winter Skifahren gelernt hat, habe selbst ihn beeindruckt.