Vater Erzählt: Tanz der Geister

Von Piet Könnicke
© Betty Shepherd
© Betty Shepherd

Einen Moment lang stand ich unter Schock. Er wolle jetzt beim Tanzen mitmachen, eröffnete mir mein Sohn vor ein paar Wochen. Ich sah ihn schon klar vor mir: in weißen Strumpfhosen, im eng anliegenden weißen Trägerhemd auf den Zehenspitzen tippeln und mit den Armen anmutig fuchteln. Geschminkt war er auch. Oh mein Gott! Was hatte ich falsch gemacht? Habe ich ihm nicht als erstes beigebracht, „Ball“ zu sagen. Er war schon auf dem Fußballplatz, als er noch im Kinderwagen lag. Sein erstes Paar Schuhe war von Nike. Seine erste Fernsehsendung war ein Boxkampf. Als er drei war, bekam er einen kleinen Basketballkorb, den man an die Kinderzimmertür hängt – stundenlang hab ich den Lärm ertragen, wenn er den Ball gegen die Tür warf. Er war vier, als ich ihm seinen ersten Schnorchel schenkte, mit dem er in der Badewanne abtauchen konnte. Mit fünf bekam er ein Mountainbike, mit sieben schickte ich ihn zum Judo, mit acht zum Fußball. Ich habe wirklich alles gemacht, dass er ein richtiger Junge wird.

Und jetzt das! Er meint, seine Lehrerin hätte ihn überredet, beim Tanzunterricht mitzumachen. Wer ist sie? Sie soll ihm richtig lesen und schreiben beibringen, von mir aus die Sache mit der Sexualaufklärung übernehmen, gern. Aber ihn drängen zu tanzen, das geht zu weit. Mein Sohn meint, dafür müsse er nicht zum Musikunterricht. Wer tanzt, müsse nicht singen. Frechheit! Eine Musikkarriere hatte ich bislang als Alternative für meinen Spross gesehen, wenn er es als Profisportler wider Erwarten nicht schaffen sollte. Aber wie soll das funktionieren, wenn er jetzt nicht einmal in der Schule lernt, wie man richtig singt.

Die Schule hat uns dann einen Brief geschrieben und das Tanzprojekt erklärt. Die beiden Tanzlehrer heißen Kathi und Ludovic. Das hat mich alles andere als beruhigt. Die beiden würden in einem Theater für Tanz arbeiten, in dem Aufführungen von Gruppen aus der ganzen Welt zu sehen sind. Na und!? Durch das Tanzen würden die Kinder lernen, Gefühle auszudrücken, hieß es. Das geht beim Judo besser, dachte ich. Doch dann ein entscheidender Satz: Sie wollen kein Ballett tanzen! Mit spürbarer Gelassenheit las ich weiter. Sie wollen Modernen Tanz lehren, bei dem alle Arten der Bewegung möglich sind: vom Rollen über den Boden wie die Wellen am Meer bis zu hohen Sprüngen wie ein Astronaut im All. (Ich wollte früher auch mal Astronaut werden.) Man könne auch tanzend mit seinem Körper seinen eigenen Namen schreiben. „Da machst du mit“, sagte ich schließlich.

Die ersten Male nach dem Tanzunterricht wollte ich unbedingt wissen, was sie gemacht haben. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Er sei ein Baum, der sich im Wind wiegt, erzählte mein Sohn.

„Mach mal vor!“

Er reckte die Hände über den Kopf, machte sich straff und pendelte hin und her. Ich fand, es sah gut aus. Dann zeigte er mir noch Tanzbewegungen für lautloses Anschleichen. Auch das fand ich nicht schlecht, denn mit Kennerblick sah ich, dass beim gleichzeitigen Dehnen der Wadenmuskulatur auch die Oberschenkel gekräftigt wurden.

Ich wurde nachlässig, dachte, die Sache läuft und hörte auf, Nachfragen zu stellen. Bis vor ein paar Tagen mein Sohn ein knappe Erklärung abgab: „Ich mach beim Tanzen nicht mehr mit!“ Es sei zu brutal. Mir war völlig klar, dass er mitten im Schuljahr nicht das Fach wechseln kann und ich setzte schon zur üblichen Belehrung an: Man bricht nicht vorzeitig ab, was man begonnen hat! Man muss auch mal durch, wenn’s schwer wird! Was uns nicht umbringt, macht uns härter! Schluss ist, wenn der Schiri pfeift! Die Oper ist erst zu Ende, wenn die dicke Dame aufgehört hat, zu singen!

Dann fiel mir die Diskussion ein, die wir vor kurzem wegen seiner Computerspiele hatten. Die haben Titel wie Empire Earth oder American Conquest. Ich hab meist nur die nervigen Sounds gehört, wenn mein Sohn am Computer saß. Ab und zu hörte ich eine animierte Stimme rufen: „Wir werden angegriffen.“ Dann klickte mein Sohn auf eine Figur, die dadurch offenbar aktiviert wurde, die Angreifer zu vertreiben. War der Friede wieder hergestellt, baute er weiter Tempel und Geschäfte, bewirtschaftete Felder und schickte Handelsschiffe in See. Ich hielt das für harmlos, bis mir jetzt seine Lehrerin erzählte, dass sich in der Unterrichtspause gern ein paar Erstklässler um meinen Sohn scharen, weil er so tolle Horrorgeschichten erzähle. Das anschließende Gespräch war nicht lustig. Ich fühlte mich schuldig, trotzdem vereinbarten wir: Keine Computerspiele mehr. Unter Tränen gab er sie ab. Seit ein paar Tagen klebt ein selbst gemaltes Bild an seiner Zimmertür: „Gewaltfreie Zone!“

Mir wurde klar, dass er mit „brutal“ gar nicht die körperliche Anstrengung beim Tanzen meinte, sondern die Figur, die er darstellen soll: einen Geist, der einen Nachtwächter angreift. Ich hab ihm versprochen, mit zum Tanzunterricht zu kommen und mir die Szene anzuschauen. Sollte sie wirklich brutal sein, würde ich mit den Lehrern reden.

Der Geist greift tatsächlich den Nachtwächter an. Aber brutal wirkt das nicht. Er bewegt sich sanft und leichtfüßig. Er schwebt. Fast wie beim Ballett.