Vater Erzählt: Einfache Lektion

Von Piet Könnicke
© Zur Verfügung gestellt von Piet Könnicke
© Zur Verfügung gestellt von Piet Könnicke

Wenn irgendwann einmal ein Ratgeber geschrieben wird, wie sich Väter während eines Fußballspiels ihrer Söhne richtig verhalten, bin ich der Erste, der das Buch kauft. Ich würde „1000 legale Steuertipps” eintauschen gegen einen einzigen Hinweis, wie man seinem kickenden Nachwuchs am besten gerecht wird.

Vor einiger Zeit stand für die Mannschaft meines elfjährigen Sohnes ein nachträgliches Punktspiel auf dem Plan. An einem Montagabend. Ich vergewisserte mich beim Trainer meines Sohnes, ob Fritz auch wirklich spielen soll. Fritz selbst wollte unbedingt dabei sein, da er aber etwas Trainingsrückstand hatte, hätte ich es verstanden, wenn andere Jungs den Vorzug erhalten hätten. „Ja klar”, versicherte mir der Coach indes, „Fritz spielt.”

Um es kurz zu machen: Fritz hat nicht gespielt! Nach der Erwärmung und Mannschaftsaufstellung kam er zu mir und meinte: „Ich spiele erstmal nicht.” „Okay”, erwiderte ich. „Halt dich trotzdem schön warm, beweg’ dich, dehn’ dich, so dass du richtig fit bist, wenn du eingewechselt wirst.” Also turnte Fritz ein bisschen am Spielfeldrand umher, ich sah ihn ein-, zweimal auf und ab rennen, um sich dann lieber doch mit den anderen Jungs, die auch noch nicht spielten, zu unterhalten. Der Sportler in mir war natürlich empört: „Der soll sich fit machen und nicht rumstehen. Der soll seinem Coach zeigen, dass er bereit ist!” Meine väterliche Seite indes beruhigte mich: „Es scheint ihm nichts auszumachen, wenn er erst später eingewechselt wird.”

Es war spannend. Zur Halbzeit führte Fritz‘ Mannschaft 3:2. Als die Jungs nach der Pause plappernd und voller Spielfreude aus der Kabine kamen, sagte Fritz: „Ich werde erstmal nicht eingewechselt!” Es klang beinahe wie eine Entschuldigung.

Wir feuerten die Jungs an, klatschten und schrieen. Ich hörte Fritz, wie er seine Mitspieler antrieb. Und mich beschlich die böse Vorahnung, dass er selbst nicht spielen würde. Die Spielzeit lief ab und mit jeder Minute wurde ich nervöser. Ich sah zu Fritz und spürte, dass er zunehmend hin- und hergerissen war zwischen Anfeuern und Enttäuschung. Auch ich war unentschlossen: Soll ich zum Trainer gehen und ihm sagen, dass es jetzt Zeit wäre, Fritz die letzten Minuten spielen zu lassen? Oder sollte ich seine Autorität als Trainer anerkennen? Wie weit ging hier und jetzt meine Verantwortung als Vater, wie weit meine Fürsorgepflicht? In welcher Rolle bin ich für Fritz das bessere Vorbild: in der des Vaters, der sich dafür stark macht, dass er Fußball spielen darf? Oder in der Rolle des Sportlers, der die Entscheidungen des Trainers akzeptiert? Ich war wie gelähmt – bis zum Schlusspfiff.

Die Jungs haben gewonnen. Einige liefen auf Fritz zu und riefen: „Der Sieg ist auch für dich.” Fritz kämpfte mit den Tränen, unsicher jubelte er mit. Als sich die Mannschaft bei uns Eltern mit einer La Ola-Welle bedankte, reihte sich Fritz verhalten mit ein. Danach fragte er mich: „Warum soll ich mich denn bedanken, ich hab’ ja gar nicht mitgemacht?” Als ich dem Trainer gratulierte, erklärte ich ihm, dass ich mich für die Mannschaft freue, aber mir sehr gewünscht hätte, wenn Fritz eingewechselt worden wäre. Keiner der Jungs hätte es verdient, nur zuschauen zu müssen. Der Trainer erwiderte, was ein Fußballtrainer in solch einer Situation wohl sagen muss: „Das ist im Fußball manchmal so.” Ja klar, dachte ich: Und der Ball ist rund und muss ins Eckige. Ich war sauer und unfähig, mit meiner Enttäuschung umzugehen. Wie musste es da erst Fritz gehen? Dieser Kampf eines Elfjährigen zwischen äußerer Coolness und innerer Betroffenheit. Oft hatte ich ihm schon gesagt, dass man aus allem lernen kann. Doch welche Lehre sollte er aus diesem Abend ziehen? Dass er lieber Läufer als Fußballer werden sollte? Dass das Leben kein Ponyhof ist? Tolle Weisheiten! Ich hätte ihm jetzt erklären können, dass Fußball manchmal etwas sonderbar ist und dabei hin und wieder merkwürdige Dinge passieren – der verzweifelte Versuch eines Vaters, die Dinge schön zu reden. Das hätte aber immer noch nicht erklärt, warum er nicht mitspielen durfte.

Ich fand großartig, wie er reagiert und sich trotz seiner Enttäuschung für die anderen gefreut hat. Und ich konnte verstehen, dass bei aller Freude die Enttäuschung schwerer wog, selbst nichts zu dem Sieg beigetragen zu haben. Und plötzlich sah ich den – in meinen Augen – wahren Sieger des Abends: Fritz! Ich sagte ihm, dass es eine genauso tolle Leistung sei, ein ganzes Spiel lang seine Mannschaft anzufeuern und es auszuhalten, nicht spielen zu dürfen. Er könne sich genauso als Sieger fühlen wie die anderen Jungs.

Dennoch hatte ich das Gefühl, es Fritz schuldig zu sein, am Tag nach dem Spiel noch einmal mit dem Trainer zu reden. Vielleicht konnte er mir plausibel erklären, warum Fritz draußen bleiben musste. Er erzählte mir etwas von Spielfluss, den er nicht habe unterbrechen wollen, indem er ein- und auswechselt. Spielfluss? Das klang nach hoher Fußballschule. Wäre Fritz unser künftiger Nationalverteidiger und seine Mannschaft das Perspektiv-Team für die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien, hätte ich das sofort unterschrieben. Aber es handelt sich hier um elfjährige Jungs, die rennen, tricksen und Tore schießen wollen und sich anschließend bei McDonald’s überraschen lassen, was in ihrer Happy Meal-Tüte steckt. Ich habe Fritz gefragt, wie er darüber denkt. „Spielfluss”, meinte er, hätten sie im Training noch nicht geübt. „Das hatten wir noch nicht”, sagte er, als hätte ich ihn nach einer Mathe-Aufgabe gefragt, die erst im nächsten Schuljahr dran ist. So feinfühlig wie es nur ging, erkundete ich, ob sein Selbstwertgefühl arg gelitten hatte: „Und, ist es jetzt doof, das nächste Mal zum Training zu gehen?” „Nein”, sagte er sofort. „Ich will jetzt besser werden als der, der im Moment auf meiner Position spielt.” Und dann sagte er etwas, was so unerhört erwachsen klingt, aber nur ein Kind sagen kann: „Ich trainiere, um zu spielen, nicht um zu gewinnen.” Fritz ging es nicht darum, ein Spiel zu gewinnen; sein Ziel war es, auf dem Feld zu stehen und mit seinen Mannschaftskameraden zu spielen. Hartes Training war der Lohn dafür, am Spieltag auf dem Feld stehen zu dürfen – zu gewinnen war nur ein Bonus.

Verrückt: In dieser Einfachheit habe ich das lange nicht mehr gesehen. Diese Leichtigkeit ist uns Erwachsenen verloren gegangen. Während Fritz‘ Trainer und ich uns mit Erklärungsversuchen schwer taten, machten seine Mannschaftskameraden das Einfachste und Beste, was zu tun war: Sie vergaßen nicht, ihn in ihrer Siegesfreude aufs Spielfeld zu holen. Im Grunde sind sie es, die den Ratgeber schreiben, wie sich Erwachsene am Rand eines Fußballfeldes verhalten sollen, wenn ihre Kinder spielen. Wir müssen ihre Hinweise nur lesen können.