Jack Fultz im Gespräch: „Wir verwechseln Erfolg häufig mit Sieg.”
Sein Name wird vor allem mit seinem Sieg beim Boston-Marathon 1976 in Verbindung gebracht, doch Jack Fultz ist ein erstaunlich vielseitiger Mann. Er unterrichtet Sportpsychologie in Massachusetts , arbeitet als Personal Trainer, hält Lehr- und Motivationsvorträge und ist Berater für die Dana-Farber Marathon Challenge, die seit dem Beginn seines Engagements 1990 rund 30 Millionen US-Dollar an Spendengeldern für die Krebsforschung eingenommen hat.
Mit seinem Sieg beim Boston-Marathon 1976 ging Jack in die Laufgeschichte ein. Dieser legendäre “run for hoses” (,Der Lauf ums kühle Nass’) fand unter extremen Wetterbedingungen statt, es herrschten mehr als 38° Celsius. Zwei Jahre später wurde Jack Fultz beim Boston-Marathon in persönlicher Bestzeit von 2:11:17 Stunden Vierter. Jack läuft zwar keine Marathon-Rennen mehr, aber mit seinen 58 Jahren ist er auch heute noch äußerst fit und ausdauernd: Seit 2003 nimmt er unter anderem regelmäßig an der alljährlich stattfindenden Pan-Massachusetts Challenge teil, einem zweitägigen Radsport-Ereignis für wohltätige Zwecke.
Jack hat auch eine enge Beziehung zu Take The Magic Step®. Er stand Uta vor ihrem ersten Boston-Marathon im Jahr 1990 hilfreich zur Seite. Durch ihn entwickelte sich die enge Zusammenarbeit zwischen Uta und dem Dana-Farber-Krebsinstitut.
Dieses Interview wurde von Scott Douglas aus dem Take The Magic Step-Team geführt.
Wie sieht eine typische, sportliche Woche bei Ihnen aus?
Jack Fultz: So etwas wie eine typische Woche gibt es für mich eigentlich gar nicht, was ich als echten Segen empfinde. Ich verbringe viel Zeit mit Personal Training. Wenn es das Wetter erlaubt, fahre ich häufig mit dem Rad zu meinen Klienten. Im Winter, mitunter aber auch im Sommer, gehe ich ins Fitness-Studio, weil ich in verschiedenen Studios Laufprogramme anbiete, zu denen auch Stretching-Übungen gehören.
Eine große Leidenschaft von mir ist Golf. Dieser Sport mag von außen betrachtet vielleicht wenig mit Fitness zu tun haben, aber man benötigt ein gewisses Maß an Beweglichkeit, Konzentration und Schnelligkeit. Wenn ich einen Ball richtig gut abgeschlagen habe, ist das für mich durchaus eine tolle sportliche Leistung.
Mental gesehen, gibt mir Golf genau das, was mir der Laufsport während des größten Teils meiner Läuferkarriere geben hat: die Möglichkeit, meine Leistung zu verbessern, wenn ich härter trainiere. Doch beim Laufen musst du dich ab einem gewissen Punkt an den Altersklassentabellen orientieren, um festzustellen, ob du dich weiter verbessert hast. Doch bei einer Sportart wie Golf kann ich meine Leistung immer noch steigern. Außerdem ist es ungemein inspirierend herauszufinden, wie du dein Training strukturieren musst, um deine Leistung zu verbessern. In erster Linie brauchst du Disziplin. Du kannst nicht erwarten, dass sich deine Leistung verbessert, wenn du nur einmal pro Woche spielst. Ich versuche beim Golf die gleiche Einstellung zu entwickeln wie schon beim Marathontraining: Wenn du dich wirklich verbessern willst, dann musst du ständig am Ball bleiben.
Laufen Sie überhaupt noch?
Jack: So gut wie gar nicht mehr. Ich habe Arthritis in meiner Hüfte. Wenn meine Hüfte noch gesund wäre, könnte ich trainieren und an Altersklassen-Rennen teilnehmen. Ich will ganz ehrlich sein: Nichts kann mir das geben, was mir der Laufsport gegeben hat. Nichts gibt mir diese Erfüllung oder dieses Hochgefühl.
Natürlich achte ich darauf in Form zu bleiben, schon wegen meiner Arbeit. Aber wahrscheinlich tue ich eine ganze Menge mehr als notwendig wäre, um fit und gesund zu bleiben.
Ich habe nie verstanden, wie manche Leute – obwohl Sie wissen, wie es sich anfühlt, total fit zu sein – einfach sagen können: “Was soll’s – ich werde doch nicht täglich eine halbe Stunde opfern, nur um in Form zu bleiben.“
Jack: Ja, das verblüfft mich ebenfalls. Man sollte eigentlich annehmen, dass Laufen ab einem gewissen Punkt mehr Bedeutung bekommt als nur den reinen Wettkampfgedanken. Dass es Läufer einfach erstrebenswert finden, aktiv, gesund und fit zu sein. Dazu musst du keine 160 Kilometer in der Woche laufen – es ist ohnehin fraglich, ob ein Marathontraining auf höchstem Niveau der Gesundheit vollständig zuträglich ist. Aber das ist eigentlich nicht unser Thema – wir reden hier über ein moderates Maß an regelmäßiger, sportlicher Betätigung. Für mich gehörte es schon immer zu einem Teil meiner Persönlichkeit, eine gesunde und aktive Lebensweise zu führen. Wenn ich mir die Jungs, gegen die ich früher angetreten bin, so anschaue, kann ich mir nur schwer vorstellen, dass es ihnen anders geht. Nehmen wir Bill Rodgers oder meinen Freund Tom Ratcliffe [KIMbia-Manager] mit einer Marathonbestzeit von 2:14 Stunden. Ich glaube, dass er auch dann noch täglich laufen würde, wenn er keinen Wettkampf mehr bestreiten könnte, weil Laufen ganz einfach ein Teil seiner Persönlichkeit ist.
Es hat mich schon immer gewundert, dass für einige Sportler – sobald kein Wettkampfgedanke mehr mit im Spiel war – der Sport vollständig seinen Reiz verloren hat. Für andere ist es das Größte, hinaus zu gehen und in der Natur zu laufen.
Jack: Als ich 1979 nach Concord – in die Nähe von Boston – zog habe ich neue Laufpfade auf eigene Faust erkundet. In der neuen Umgebung wurden meine Läufe fast zu einer Art Meditation, so konnte ich mich glücklich schätzen, diesen Teil für mich entdeckt zu haben.
Vor dem diesjährigen Boston-Marathon war ich auf einem Forum von Runner’s World, auf dem Greg Meyer [Boston-Marathon-Sieger 1983] darüber geredet hat, dass seine größte Motivation der Gedanke ist, einen Lauf zu gewinnen. Mein eigener Antrieb während meiner Wettkampfjahre, und was mich schließlich auch zur Sport-Psychologie gebracht hat, war meine Neugier, welche Faktoren die Leistungsfähigkeit einschränken: Waren diese Faktoren physischer oder eher mentaler Natur? Ich war überzeugt, dass bei den meisten Athleten der mentale Faktor dominant war. Also habe ich mir zum Ziel gesetzt, während eines Wettkampfes Erkenntnisse über mich selbst zu gewinnen – ich wollte einfach herausfinden, wie gut ich werden konnte. Das bedeutete auch, in diesem Sport für mich selbst eine Bedeutung zu finden, die außerhalb des Wettkampfgedankens lag. Beim Wettkampf tritt einer gegen den anderen an und unsere Leistung richtet sich nur nach der Leistung der anderen. Folglich musst du in einem Wettkampf nicht unbedingt deine Bestleistung bringen, um zu gewinnen, du musst einfach nur besser sein als die anderen. So haben wir die Spielregeln festgelegt, so ist sogar unsere Gesellschaft ausgerichtet und das ist verständlich. Aber wenn dies immer das oberste und einzige Ziel unserer Aktivität ist, dann wird es sich zerstörerisch auf unsere Leistung auswirken.
Dies trifft aus einer ganzen Reihe von Gründen zu, denn niemand wird immer nur auf der Gewinnerseite stehen, die meisten Menschen gewinnen eher selten. Wenn dies also die einzige Motivation ist, wird das Maß unserer Aktivität stark reduziert. Möglicherweise ist das Streben nach dem Sieg der einzige Antrieb für die Jungs, über die wir vorher gesprochen haben. Wenn sie an den Punkt kommen, an dem sie nicht mehr gewinnen können, geben sie ihre Disziplin einfach auf. Laufen hieß für sie gewinnen. Ohne Siege macht für sie Laufen keinen Sinn mehr.
Schauen Sie sich einige der großen Trainer an – Vince Lombardi, John Wooten, Leute, die einen Namen hatten – sie haben nicht ständig darüber gesprochen, den Gegner zu schlagen. Sie sprachen von optimaler Vorbereitung, von optimaler Ausführung und das Ergebnis war ein Nebenprodukt eines perfekt ausgeführten Spiels. Sogar Vince Lombardi, der gesagt haben soll: „Gewinnen ist nicht alles, es ist das Einzige”, hat später diese Erklärung zurückgenommen und gesagt: „Gewinnen ist nicht alles, sondern der Wille zu gewinnen.” Der Wille zu gewinnen bedeutet, dass du dich entsprechend deiner Fähigkeiten vorbereitest, einen cleveren Ansatz wählst und alles in deiner Macht Stehende tust, damit am Ende des Spiels oder des Rennens nichts unversucht geblieben ist und du dein Bestes gegeben hast. Was am Ende wirklich dabei heraus kommt, ist dann was es ist.
Wenn Sie Boston 1976 oder Boston 1978 vergleichen müssten – mit welchen Rennen sind Sie zufriedener?
Jack: Für mich sind beide gleichermaßen befriedigend. Wahrscheinlich habe ich 1978 mehr aus mir herausgeholt, weil ich während des gesamten Laufs bis zum Ziel hart kämpfen musste. Wohingegen ich 1976 nach rund 30 Kilometern die Führung übernommen hatte und einfach nur weiter rennen musste – alle anderen waren hinter mir, und ich habe den Vorbeimarsch irgendwie genossen. Nach 35 Kilometern bekam ich einen kurzen Wadenkrampf und für einen Moment schoss mir dieser Gedanke durch den Kopf: „Oh Gott, wenn ich jetzt nachlasse, dann wird mich jemand einholen.” Und mein nächster Gedanke war: „Und selbst wenn – das ist das beste Rennen, das ich bis jetzt gelaufen bin und ich werde zurückkommen und es erneut versuchen. Wenn das also passieren sollte, dann passiert es eben und dann kann ich ohnehin nichts dagegen tun. Ich werde damit leben und beim nächsten Mal wieder hier sein und kämpfen.” Dieser Gedanke reichte schon aus und versetzte mich in die Lage, das Tempo etwas zu drosseln, meine Fassung wieder zu erlangen und meine Wade konnte sich dabei so weit entspannen, dass ich die restlichen Kilometer weiterlaufen konnte. Stellen Sie sich vor, mich hätte einzig der Gedanke an den Sieg getrieben und ich hätte in dem Moment, als der Sieg in greifbare Nähe rückte, nicht loslassen können. Dann hätte dies durchaus meinen Untergang bedeuten können.
Für mich ist es sehr interessant zu beobachten, wie sich die traditionelle Einstellung zum Wettkampf bereits bei den jungen Athleten herausbildet. In dieser Phase entwickelt sich die eigene Haltung zum Wettkampf. Wenn du in dieser Phase nicht in der Lage bist, etwas zu tun, womit du deine wahre Motivation für die Dinge, die du später im Leben einmal tun wirst, nähren kannst, dann gerätst du in eine Sackgasse, denn du wirst nicht immer gewinnen und deshalb wirst du ständig frustriert sein und irgendwann wirst du wahrscheinlich aufgeben.
Wenn Sie zurückblicken – wie oft haben Sie diesen Denkansatz intuitiv angewandt und wie sehr haben Sie bewusst versucht, so zu denken?
Jack: Ich denke, dass die Dinge, die ich später gelernt habe, genau das bestätigt haben, was ich vorher schon gefühlt habe. Ich konnte es nur nicht in der Weise artikulieren, wie ich es heute tue. Als ich mit dem Studium der Sportpsychologie begonnen habe, schaute ich mir die Geschichten von Trainern und Athleten an, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie ich und diese auch gut artikulieren konnten. Timothy Galloway beschreibt in seinem Buch “The Inner Game of Tennis” ziemlich genau dieses Thema. Er war Kapitän des Tennis-Teams an der Harvard-Universität und versuchte auf professionellem Level zu spielen. Er hatte die zerstörerischen Seiten des Wettkampfs erkannt, die beim Tennis-Sport besonders ausgeprägt sind. Wo Eltern ihren Ehrgeiz auf Kosten ihrer Tenniszöglinge ausleben und viel Geld für das Training der Kinder hinblättern in der Hoffnung, dass diese ein Stipendium fürs College erhalten oder es eines Tages bis zur Pro-Tour schaffen. Die höheren Ebenen im Tennis-Sport sind stark von elitärem Denken geprägt und davon hat er genügend gesehen. Menschen werden durch dieses übersteigerte Wettkampfdenken kaputt gemacht und werden selbst zu ihrem ärgsten Feind. Er konnte die Gefahren des Wettkampfes sehen: Wie Kinder aus Angst Magenprobleme bekommen, der große Druck ihnen die ganze Freude am Sport nimmt und wie all das sie schließlich in eine Sackgasse führt. Er hat Folgendes herausgefunden: Nur wenn du Tennis spielst oder ein Rennen läufst, ohne dass dich irgendjemand oder irgendetwas treibt und gedanklich blockiert, kannst du deine wirkliche Höchstleistung erleben. Die du dann allerdings erst durch das Ergebnis wahrnimmst, denn während du alles gibst, bist du so sehr in der Gegenwart, dass du dir dieser Leistung nicht bewusst bist.
Diese großartigen Momente erleben wir leider viel zu selten in unserem Leben. Ich weiß, dass mir so etwas 1976 in Boston passiert ist. Wir alle haben manchmal so ein Erlebnis während unserer Trainingsläufe. Wenn du nach dem Training denkst: „Wow, was ist denn gerade passiert? Die Zeit verging ja wie im Flug!“ Wenn du dabei wirklich ganz in der Gegenwart bist, dann bekommt die Zeit ein bisschen etwas von einer anderen Dimension. Du fühlst plötzlich die Freiheit Dinge zu tun, die sich nicht mehr wiederholen lassen, sobald dir bewusst wird, wie speziell sie sind. Denn in dem Moment des Bewusstwerdens schaltet sich dein Ego ein und dein Bewusstsein versucht die Situation zu kontrollieren und stellt sich dir letztendlich in den Weg.
Ich lese gerade das Buch “Fearless Golf” von Gio Valiante. Er erläutert den Ansatz von Jack Nicklaus anhand des Golfsports. Ihm ging es niemals darum, die anderen Jungs in Grund und Boden zu spielen. Seine Gegner waren immer der Golfplatz und seine eigenen Einschränkungen. Daraus ergibt sich eine völlig andere Struktur. Für die meisten Menschen entsteht die schlimmste Wettkampfangst wegen der anderen Mitstreiter. Aus Angst, ein anderer könnte sie besiegen, ihnen den Wind aus den Segeln nehmen und sie dazu nötigen, dass sie sich selbst in Verlegenheit bringen. Dann passiert, was wohl die Mehrzahl schon einmal erfahren hat: die Wettkampfleistung spiegelt nicht wider, was man durch hartes Training vorbereitet hat. Wenn du diese Angst loslassen kannst, dann bist du auch in der Lage, das aus dir heraus zu holen, was du während deiner Vorbereitungen für dich erarbeitet hast.
Timothy Galloway schreibt, dass das Ego die Kontrolle über das Handeln ausübe und auch die Bedingungen, die unser Handeln lenken, bestimmen will. Doch im Grunde ist es das Unterbewusstsein, das wirklich weiß, wie wir das erreichen können, was wir von unserem Körper fordern. Wenn wir es also schaffen, unser Bewusstsein auszuschalten und unser Handeln dem Unterbewusstsein zu überlassen, dann wächst die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine dieser Spitzenleistungen erreichen. Immer wenn ich rückblickend auf diese wenigen Spitzenleistungen schaue, dann weiß ich, das war der Sinn und Zweck meines Rennens.
Gibt es Dinge in Bezug auf Vorbereitung und Ziele, die Sie erst in Ihren späteren Studien gelernt haben, die Sie aber gerne schon früher gewusst hätten?
Jack: Wenn ich zurück blicke, kann ich schon erkennen, dass ich sehr gut wusste, wie ich mich auf einen großen Wettkampf vorbereiten musste. Es gibt eine Sache, die ich vielleicht noch viel effektiver hätte tun können, wenn ich mehr darüber gewusst hätte und das war meine Zielsetzung. Im Nachhinein denke ich, dass ich mir ein Traumziel hätte setzen sollen. Also ein Ziel, von dem du glaubst, dass du es niemals erreichen wirst. Den Boston-Marathon zu gewinnen, wäre zum Beispiel so ein Ziel gewesen. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass ich ihn gewinnen könnte, aber trotzdem träumen wir alle davon, so wie kleine Kinder, die beim Fußballspielen davon träumen, einmal in der Bundesliga zu spielen. So ein Traumziel kannst du dir immer vor Augen halten und darauf hinarbeiten.
Beim Training hätte ich von meinen späteren Erkenntnissen profitieren können. Doch ich habe immer zu viel Zeit mit einer Art “ad hoc-Training” verbracht, bei dem ich ständig die Richtung gewechselt habe. Ich glaube, im Training war ich selbst mein ärgster Feind. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass sich meine Trainingsleistung zu 100 Prozent auf meine Wettkampfleistung übertragen lässt. Dabei war ich viele Male übertrainiert, ging viel zu müde in zu viele Rennen und war dann unfähig, mich meinem Unterbewusstsein zu überlassen – es passierte genau das, worüber wir vorhin gesprochen haben. Nach dem Rennen habe ich dann gedacht: „Mensch, das bin doch nicht ich – ich bin doch viel fitter, vor allem nach dem tollen Training, das ich Anfang der Woche absolviert habe.“ Wahrscheinlich war mir das Rennvermögen schon bei meinem intensiven Training abhanden gekommen. Eine bessere Zielsetzung hätte mir mehr Selbstsicherheit vermittelt und ich hätte gewusst, dass ich meine Kontrahenten nicht ständig mit vielen und schnellen Trainingseinheiten übertrumpfen muss, um sie zu besiegen. Eammon O’Reilly [früherer amerikanischer Rekordhalter im Marathon] erzählte mir etwas, das Bob Schul [olympischer Bronzemedaillengewinner] ihm einmal gesagt hat: „Du musst deine Gegner nicht beim Training übertrumpfen, du musst sie nur im Rennen schlagen.“ Aber meist differenzieren wir nicht zwischen den beiden Aspekten, wir sagen einfach: „Je härter du trainierst, desto fitter wirst du. Und je fitter du bist, desto besser rennst du.” Doch es ist wichtig, das Training mit Verstand zu gestalten, ebenso wie du für deine Laufstrategie deinen Verstand einsetzen musst.
Sie haben bereits erwähnt, dass die Frage, ob Leistungsbeschränkungen eher physiologischer oder mentaler Natur sind, eine der ersten Fragen war, die Sie in der Sportpsychologie interessiert hat. Wie können Sie Ihre Denkweise in die Arbeit mit der Dana Farber-Marathon-Challenge einfließen lassen. Können Sie damit Menschen – die fast keinen sportlichen Hintergrund haben – zeigen, wozu sie fähig sind?
Jack: Zunächst gebe ich ein paar Anekdoten zum Besten und erzähle über einige Stationen aus meinem Leben, einfach um zu zeigen, dass jedermann im Laufteam seine Träume verwirklichen kann. Ich spreche über Menschen, die ebenfalls auf niedrigstem Niveau begonnen haben und nicht unbedingt zu den Wunderkindern zählten, die aber trotzdem recht erfolgreich werden konnten, eben weil sie an sich und ihre Fähigkeit geglaubt haben. Außerdem fordere ich die Teilnehmer auf, ihre Geschichte zu erzählen. Diese Geschichten machen deutlich, dass – so physisch das Marathon-Training auch ist – die einschränkenden Faktoren meist mentaler Natur sind. Bei passender Gelegenheit ermutige ich die Teilnehmer, auf ihre eigenen Erfahrungen zu schauen. Dabei werden sie feststellen, dass sie Dinge in ihrem Leben erreicht haben, von denen sie nie gedacht hätten, dass sie sie jemals erreichen würden. Und doch hat es funktioniert, weil sie sich der Situation gestellt haben, am Ball geblieben sind und an sich selbst geglaubt haben. Woody Allen hat ganz richtig bemerkt, dass 90 Prozent unseres Erfolgs im Leben davon abhängen, dass wir uns den Situationen stellen. Wenn du nicht müde wirst, durchzuhalten, dich den Aufgaben stellst und dir die Zeit nimmst, dann erreichst du deine wahren Möglichkeiten. Vor diesem Hintergrund können diese Menschen verstehen, dass ihre Einschränkungen eher auf mentale als auf physische Ursachen zurückzuführen sind.
Raten Sie den Menschen gleich mit mehreren Zielen in den Wettkampf zu treten?
Jack: Ja. Lassen Sie mich ein Beispiel aus meiner Praxis erzählen. Als ich 1978 nach Boston kam, war ich in absoluter Bestform. Ich kann mich noch gut erinnern, was ich vor dem Rennen gedacht habe: „Was ist mein Ziel? Ich würde gerne gewinnen, doch was ist, wenn ich nicht gewinne?“ In so einer Situation neigen wir zu Horrorszenarien: „Oh Gott – was ist, wenn ich nicht gewinne?“ Selbst eine Niederlage sollte kein Untergang für dich bedeuten. Denn wenn wir an nichts anderes mehr denken können als an unsere Niederlage, besteht die Gefahr, dass sich unsere größten Ängste bestätigen.
Natürlich beschäftigen wir uns mit dem Ergebnis, dafür trainieren wir. Wir trainieren, um eine bestimmte Zeit zu laufen. Wir trainieren für eine bestimmte Platzierung bei einem bestimmten Rennen. Für einige geht es um den Sieg. Für andere geht es darum, in ihrer jeweiligen Altersgruppe zu gewinnen. Bei anderen mag es wiederum darum gehen, sich für ein bestimmtes Rennen zu qualifizieren. Für eine 40-jährige Frau liegt die Qualifikation für den Boston-Marathon bei 3:40 Stunden – das ist keine echte Weltklassezeit, doch für sie persönlich mag es eine tolle Zeit sein. Allerdings nur solange, wie ihr Fokus auf die 3:40 Stunden nicht übermächtig wird und sie jede Zeit, die langsamer ist, als schreckliche Niederlage empfindet. Das würde sie im Rennen lähmen, weil sie sich selbst im Wege steht. Denn dann wird ihr Lauf von der Angst dominiert, das gesteckte Ziel nicht zu erreichen.
Und das gilt für jeden Einzelnen von uns. Vor dem Boston-Marathon 1978 bauten sich plötzlich große Ängste in mir auf, weil ich den Lauf noch ein weiteres Mal gewinnen wollte. Je mehr ich darüber nachgedacht habe, desto größer wurden die Ängste. Jedes Mal wenn ich meinem Ziel näher kam, riskierte ich, mich zu übertrainieren. Also habe ich mir gesagt: „Ganz egal, wie das Rennen ausgeht, ich werde über die Ziellinie laufen und wissen, ich habe mein Möglichstes gegeben.“ Dadurch habe ich die Angst vor meinen Gegnern verloren. In dem Moment, als ich mich darauf konzentrieren konnte, das beste Rennen zu laufen, zu dem ich fähig war, konnte ich die anderen Jungs sogar als Ansporn sehen, mein Ziel zu erreichen. Ich dachte mir: „Ich bin bereit schnell zu laufen. Ich weiß nicht, was passieren wird, aber wenn ich die Chance zum Sieg haben sollte, dann werde ich mir die Seele aus dem Leib rennen. Und ich werde es nicht zulassen, dass die Angst zu verlieren mich beherrscht und sich mir in den Weg stellt.“
Also ging ich 1978 so ruhig und entspannt und zugleich ebenso aufgeregt wie 1976 in das Rennen, doch meine Haltung war eine völlig andere. Für mich sind solche Erfahrungen wirklich eine Bestätigung für das, was wir über das Wesen des Wettkampfes in der Literatur lesen können. Wir verwechseln Erfolg mit Sieg. Natürlich ist das Produkt wichtig – natürlich ist das Ergebnis wichtig, deshalb schauen wir ja auf unsere Zeiten. Doch wir müssen uns über die zerstörerischen Seiten bewusst sein, wenn wir den Sieg über alles andere stellen. Das ist auch der Grund, dass so viele Kinder es nicht bis zum College-Sport schaffen. Eine ganze Reihe meiner Studenten bleiben sogar dem Sportunterricht fern, den sie auf der Highschool auf hohem Niveau praktiziert haben. Die wahre Motivation geht in dem Moment verloren, wenn sie durch äußere Faktoren überlagert wird. Wenn es nur noch wichtig ist, Preise, Medaillen und Trophäen nach Hause zu tragen. Das Gleiche passiert in der Schule: Die Kinder werden zu guten Noten getrieben und nicht dazu animiert, sich Wissen anzueignen. Dabei wird nicht beachtet, dass sie durch Wissen gute Noten erreichen würden.
Meine Botschaft ist: Es ist gut, mitzuspielen und auch gewinnen zu wollen. Doch der Weg, den wir dabei einschlagen, ist nicht so offensichtlich, wie wir glauben. Es gibt viele, ganz subtile Nuancen, die uns auch dann viel zufriedener und erfüllter machen, wenn wir keinen Sieg nach Hause getragen haben. Ironischerweise verbessert sich die Leistung der Menschen, die den von mir favorisierten Ansatz beherzigen. Plötzlich gewinnen sie Rennen in ihrer Umgebung oder gewinnen das Spiel, sie erreichen mehr und sehen besser aus. Ab und zu meldet sich dann wieder dein Bewusstsein und dein Ego tritt auf die Bühne und will dir vorschreiben, wo es lang geht, es stellt sich dir in den Weg, will das Zepter in die Hand nehmen und flüstert dir ins Ohr: „Besser, Du gewinnst“. Und dann bist du wieder bei Punkt eins angelangt. Das ist nun einmal eine Sache, auf die du dein Leben lang ein sehr wachsames Auge werfen musst.
Aber wenn du diese Sichtweise beherzigst und ein Rennen nicht gewinnst – was wohl meistens der Fall sein wird – wirst du trotzdem ein Gefühl der Zufriedenheit spüren. Ich komme noch einmal auf Ihre Frage über 1976 versus ’78 zurück; 1978 war ich mindestens ebenso erfüllt von meinem Lauf, vielleicht sogar noch erfüllter als 1976. Ich habe zwar nicht gewonnen, aber ich war erfolgreich und auf meine eigene Weise sogar siegreich.
- Erschienen am 18. September 2007
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