„Man gibt jedes Mal sein Bestes”: Ein Interview mit Nicky Martin

Von Andy Edwards
Nicky Martin in Kenia. © zur Verfügung gestellt von Nicky Martin
Nicky Martin in Kenia. © zur Verfügung gestellt von Nicky Martin

Nicky Martin ist einer der vielen traditionellen, hochklassigen britischen Vereinsläufer, die Zeit ihres Lebens an Bahn-, Straßen- und Cross-Wettkämpfen teilgenommen haben – doch seine Geschichte ist eine Besondere. Als Ehemann einer Kenianerin, verbringt er den größten Teil des Jahres in Nairobi, wo er an einer Schule als Leiter des Bereiches Naturwissenschaften unterrichtet. Jeden April kehrt er jedoch rechtzeitig nach Großbritannien zurück, um am London-Marathon teilzunehmen, wo er seine beeindruckenden Leistungen stetig verbessert: 2006 ist er seine bisher schnellste Zeit gelaufen, 2:26 Stunden – und das mit 42 Jahren! Wir sprachen über seine Ansichten zur Beständigkeit und Ausdauer beim Laufen und darüber, ob Kenianer von Natur aus talentierte Läufer sind. (Hinweis: Seiner Meinung nach, sind sie das definitiv nicht!)

Nicky Martin beim London-Marathon. © zur Verfügung gestellt von Nicky Martin
Nicky Martin beim London-Marathon. © zur Verfügung gestellt von Nicky Martin

Sind Sie schon immer gelaufen?

Nicky Martin: Ja. Ich habe mit dem Laufen angefangen, während ich die Gospel Oak-Grundschule besuchte. Ich mochte den Lehrer und wollte nicht zu spät zum Unterricht kommen. Später dann, auf der weiterführenden Schule, haben mich meine Lehrer zum Laufen ermutigt – deshalb würde ich sagen, ich bin fast mein ganzes Leben lang gerannt. Abgesehen von fünf Jahren, als ich mit Mitte dreißig einen körperlich sehr anstrengenden Job hatte.

Lassen Sie uns zunächst einmal über den Teil Ihres Lebens sprechen, der sich in Kenia abspielt; zu den Einzelheiten Ihrer Laufkarriere kommen wir später. Erzählen Sie uns, wie sich Ihr Leben dort entwickelt hat.

NM: [Die Laufpause] hatte ich eingelegt, als ich in einem kommunalen Projekt zum Schutz von Nashörnern arbeitete, bei dem ich acht bis zehn Stunden am Tag herumlaufen musste – danach hat man einfach keine Lust mehr zu rennen. [Während dieser Zeit] habe ich natürlich an Gewicht verloren. Denn eine Sache passiert beim Gehen, du verlierst ein wenig an Muskelmasse. Ich hatte an einer nahe gelegenen Schule unterrichtet und war von da aus immer losgelaufen. Anhand meiner Fußspuren konnten die Menschen dort meine Laufstrecke verfolgen, so kam ich an diesen Job. Ich gehörte zu den wenigen Weißen, die mit den Massai den ganzen Tag umherwandern konnten und am Abend immer noch bei Verstand waren.

Die Massai und viele der anderen ethnischen Gruppen in Kenia sind dafür bekannt, Läufer hervorzubringen. Wie aber haben diese Leute auf Sie reagiert, als sie Sie beim Laufen gesehen haben? Ich denke, es ist wohl nicht übertrieben, wenn man sagt, dass viele kenianische Läufer dies aus wirtschaftlichen Gründen tun, damit sie ein besseres Leben führen können.

NM: Sie fanden es meist ziemlich skurril. Wenn du rennst, kommt gleich die Frage: „Warum die Eile?“ Bei den Rennen, an denen ich dort gelegentlich teilnahm, gab es in der Regel ein lautes Grölen und ich dachte: „Sind diese Leute nicht großartig in ihrer Unterstützung?“ Dann wurde mir jedoch klar, dass sie deshalb so grölten, weil ich der erste weiße Mann war, der vorbei lief! Doch weiter im Landesinneren, wenn dich dort jemand rennen sieht, fragen sie gleich: „Was ist los? Ist etwas passiert?“ Und du antwortest einfach: „Nein, ich renne nur, das ist alles.“

Wie viel Zeit des Jahres verbringen Sie jeweils in Kenia und in London?

Im letzten Jahr verbrachte ich zehn von zwölf Monaten in Kenia. Ich versuche, dort so viel zu trainieren wie nur irgend möglich, aber es gibt keine Straßenbeleuchtung. Es ist zwölf Stunden lang hell, und wenn du am Tag 10 oder 11 Stunden arbeiten musst, kannst du nicht mehr laufen, denn dann ist es bereits dunkel. Mit dem Trainieren ist es hier nicht so einfach.

Trainieren Sie in der Stadt oder auf dem Land? Und um welche Art von Gelände handelt es sich?

NM: Die meiste Zeit arbeite ich in [Nairobi] und trainiere in den Außenbezirken der Stadt. Jedoch haben wir ein Haus im Busch [im Masai Mara-Naturschutzgebiet, nahe der Grenze zu Tansania], und wenn ich dort bin, dann ist das Training einfach toll. Allerdings kannst du dort nicht mit einem iPod herumlaufen, du musst ständig auf der Hut sein, denn wenn du auf die Fußspuren eines gefährlichen Tieres triffst, musst Du kehrt machen und am Besten in die entgegengesetzte Richtung laufen!

Diejenigen, die noch niemals in Kenia waren, könnten denken: „Kenia sei das Land der Läufer.” Haben Sie festgestellt, dass Sie besser laufen, seitdem Sie dort leben?

NM: Dazu muss ich eines gleich vorweg nehmen – die meisten Menschen in Kenia sind keine guten Läufer! Die Athleten, die wir bei den Wettkämpfen sehen, sind die Crème de la Crème, die größten Talente auf dem Höchststand ihrer Leistungsfähigkeit. Eine leichte Höhenlage, ich lebe zum Beispiel auf 1.800 Meter, macht die Menschen langsamer, das kannst du deutlich beobachten, wenn du dort bist. Ob die [Höhenlage] letztlich deine Leistung verbessert, wage ich sehr zu bezweifeln, das hängt von deinen eigenen Kräften ab, aber im Endeffekt läufst du langsamer. Und wenn du langsamer läufst, dann bist du nicht entspannt, wenn du dein Wettkampftempo rennst. Ich denke, dass es eine Menge an Für und Wider gibt. Allerdings glaube ich, es wäre ein großer Fehler, den Erfolg der kenianischen und äthiopischen Athleten allein mit der Höhenlage zu begründen. Da gibt es weitaus gewichtigere Faktoren. Denn wenn es die nicht gäbe, würden all die Menschen, die in den südamerikanischen Anden zu Hause sind und dort in viel höher gelegenen Gebieten leben, die Champions sein. All die Läufer aus dem Himalaja und Tibet würden an der Spitze sein, doch sie sind es nicht.

Was glauben Sie ist der Grund, dass die Kenianer und Äthiopier, die wir sehen, so gute Läufer sind?

NM: Wenn du ein guter Läufer sein willst, brauchst du natürlich die richtigen Gene. Außerdem solltest du schon mit einem Grundmaß an Fitness aufgewachsen sein und einen gesunden Lebensstil haben. Und du brauchst die Möglichkeiten und den Ansporn zum Laufen. Ich denke die Kenianer und Äthiopier haben all das, aber vor allem haben sie den Ansporn zu laufen. Der ist für diese Menschen natürlich um einiges höher als für den durchschnittlichen Jungen in England. Denn es reicht ein großer Sieg und sie können sich eine gesicherte Existenz für ihr restliches Lebens aufbauen. Viel mehr Gelegenheiten, so einen Vorteil zu erzielen, haben sie kaum. Sie sind in vielerlei Hinsicht benachteiligt, aber wenn es um die Sportart Leichtathletik geht, sind sie uns gleichgestellt.

Haben Sie Trainingspartner in Kenia?

NM: Ich habe einen, der in einem benachbarten Haus als Koch und Reinigungskraft arbeitet. Mit ihm laufe ich gerne ab und zu, doch er ist häufig verletzt. Da sind auch noch ein paar andere mit denen ich laufe, ich sage ‚Hallo’ zu ihnen und renne einfach mit, aber auf Dauer sind sie viel zu langsam für mich. Hin und wieder sehe ich Catherine Ndereba oder Paul Tergat, beide wohnen im selben Viertel wie ich, aber stets laufen wir in entgegengesetzte Richtungen und so bleibt es bei einem ‚Hallo’ und jeder läuft weiter.

Das klingt nach einem ganz besonderen Viertel, wenn Ndereba und Tergat dort wohnen! Sind sich die Menschen darüber bewusst, dass erfolgreiche Läufer in ihrer Nachbarschaft leben? Sagen sie beispielsweise: „Wir haben hier einige der weltbesten Läufer“?

NM: Ja, vor einigen Läufern haben sie größten Respekt. Doch das liegt nicht nur daran, dass es Läufer sind, es hat auch mit dem Charakter der Person zu tun. In der Vergangenheit gab es hier Champions, auf die die Menschen etwas weniger stolz waren, doch Ndereba und Tergat haben sich klug in der Gemeinde verhalten. Die Kenianer sind sehr stolz und natürlich sind sie sich darüber bewusst, dass solche Berühmtheiten in ihrer Nachbarschaft leben.

Mir ist erst kürzlich aufgefallen, dass sich Ihre Marathonzeiten weiter verbessern – jetzt, mit 42 beziehungsweise 43 Jahren, laufen Sie ihre persönliche Bestzeit. Worauf führen Sie diese stetige Steigerung zurück?

NM: Ich bin sogar 44 und werde bald 45. Ich habe dafür keine Erklärung und verstehe es auch nicht. Ein gesunder Lebensstil und meine Bemühungen fit zu bleiben, spielen dabei sicherlich eine Rolle. Ich habe es nie verstanden, warum Läufer, sobald sie die 40 überschritten haben, für jedes weitere Jahr beim Marathon im Schnitt eine Minute langsamer laufen. Bei mir war das nicht der Fall. Möglicherweise liegt dies daran, dass ich nicht genug gelaufen bin, als ich jünger war. Vielleicht habe ich so eine Chance verpasst.

Sie haben erzählt, dass Sie als Junge in der Schule viel Leichtathletik betrieben haben, in Kenia legen Sie auch viele Kilometer zu Fuß zurück und vielleicht haben Sie sich einfach nicht zu früh „verheizt“. Könnten das ebenfalls Gründe sein?

NM: Stimmt, ich habe an vielen Wettkämpfen teilgenommen, als ich zum Gymnasium ging. Leichtathletik war meine große Leidenschaft. Dann kamen Jahre, in denen ich nur an wenigen Wettkämpfen teilgenommen habe. Bevor ich nach Kenia ging, unterrichtete ich in Zimbabwe, während dieser Zeit waren es zwar nicht viele Rennen, aber trainiert habe ich die ganze Zeit hindurch. Wenn ich damals an mehr Rennen teilgenommen hätte, wer weiß, vielleicht hätte ich dann jetzt genug von dem Druck und den Rennen. Aber wie schon gesagt, ich hatte im Laufe der Jahre doch ein gewisses Laufpensum absolviert – scheinbar habe ich mich dabei nicht verheizt.

In Bezug auf Tempoarbeit, Langstreckenläufe und all dies, sind Sie mehr ein Läufer, der viele Kilometer läuft oder legen Sie eher Wert auf Intensität? Und hat sich Ihr Training mit zunehmendem Alter verändert?

NM: Mein Trainingsprogramm ist heute mehr oder weniger dasselbe wie damals als Teenager: drei Intervall-Sessions pro Woche – eine kurze, eine lange Intervall-Session und Berganläufe. Ich habe den Eindruck, heute mit größeren Distanzen besser zurecht zu kommen als in jüngeren Jahren, wo ich mich häufig verletzt habe. Wenn es meine Zeit erlaubt, bin ich heute in der Lage 150 Kilometer in der Woche laufen. Ich versuche, das Training möglichst intensiv zu gestalten – Qualität statt Quantität, das ist mein persönliches Motto. Ich habe festgestellt, dass die Kenianer beim Laufen fast immer die volle Leistung bringen, einen Kenianer, der gerade mal einen lockeren Lauf absolviert, wirst du kaum finden.

Heute mit 44, fast 45 Jahren leben sie offenbar nach der Philosophie ,den Kurs und die Geschwindigkeit beibehalten’. Glauben Sie, das Beste kommt noch?

NM: Ganz sicher. Mit Ende 30 dachte ich, das war’s, „ich werde nie wieder eine persönliche Bestzeit laufen und meine Söhne werden mich innerhalb eines Jahres schlagen”. Jetzt bin ich 44, nichts davon ist eingetreten und mir ist klar geworden, man gibt jedes Mal sein Bestes. Mich fasziniert auch die Idee, für den Marathon ein Team zusammenzustellen, ein Familienteam wie zum Beispiel Vater und Sohn oder Mutter und Tochter und ich finde, dafür sollte es eine anerkannte Weltbestleistung geben. Wäre das nicht eine tolle Möglichkeit für Familien, diese Erfahrung miteinander zu teilen? Und wäre es nicht auch für die älteren Läufer, deren Leistung langsam nachlässt, eine großartige Chance, die Jungen zu fördern und mit ihnen zusammen zu arbeiten? Denn sie sind die Zukunft! Ich habe mich sogar an das Guinessbuch der Rekorde gewandt und vorgeschlagen, die Zeit des jeweils langsamer Laufenden zu messen, damit nicht der eine davon zischt, während der andere sich abmüht. Ich bin der Ansicht, die Bestleistung sollte vom Langsameren der beiden abhängen. Das wäre doch eine schöne Idee, oder?