Eine Reise in die Vergangenheit mit der Boston-Marathon-Legende Ron Hill

Von David Wright
Ron Hill gewinnt den Boston-Marathon 1970. © Von der Boston Athletic Association zur Verfügung gestellt
Ron Hill gewinnt den Boston-Marathon 1970. © Von der Boston Athletic Association zur Verfügung gestellt

Es war an einem warmen Nachmittag im September 1964. Dreihundert aufgeregte Arbeiter warteten in England vor einer Fabrik, um Ron Hill Gottes guten Segen mit auf die Reise ans andere Ende der Welt zu geben, wo er sein Heimatland bei den Olympischen Spielen in Tokio repräsentieren sollte: Der erste Engländer, der sich bei den Spielen in beiden Disziplinen – im Marathon und über die 10.000-Meter-Distanz – versuchen wollte.

Mit einem Aktenkoffer in der Hand und einem bescheidenen Lächeln, lief der etwas schmächtig gebaute, 25-jährige promovierte Chemiker durch die Reihen seiner jubelnden Arbeitskollegen.

Ich arbeitete damals für eine Tageszeitung in Manchester und war als junger Reporter dort, um die Emotionen dieses Moments für die Leser einzufangen und zu beschreiben. Ron und ich sind uns danach zwar nie wieder begegnet, doch über seine freudige Verabschiedung zu berichten, von der sich jeder hier ein glorreiches ‚Doppel’ erhofft hatte, das war eine Aufgabe, die ich nie vergessen habe. Als dann die Boston Athletic Association (B.A.A.) ankündigte, sie würde den Boston-Marathon-Gewinner von 1970 im Rahmen des „Breakfast of Champions“ am Vorabend des diesjährigen Rennens ehren, stieg ich kurzerhand auf meinen Speicher, fand nach verzweifelter Suche den mittlerweile ziemlich vergilbten Zeitungsausschnitt meines Artikels, den ich vor fast 47 Jahren geschrieben hatte, – und buchte meinen Flug nach Boston.

So kam es, dass die Marathon-Legende Ron Hill und ich uns gemeinsam auf den Weg machten … auf eine Reise in die Vergangenheit!

September 1964: Auf geht’s zum Marathon nach Tokio! © Von David Wright zur Verfügung gestellt
September 1964: Auf geht’s zum Marathon nach Tokio! © Von David Wright zur Verfügung gestellt

Eben noch hatte der Gastgeber der ehemaligen Boston-Gewinner beim „Breakfast of Champions” eine Lobrede auf ihn gehalten, und jetzt hält Ron Hill bereits den schon etwas mitgenommenen fast 50 Jahre alten Zeitungsartikel, den ich ihm gegeben habe, vorsichtig in seinen Händen und zeigt ihn lächelnd seiner Frau May. „Ich werde diesen Tag auch niemals vergessen“, sagt er. „Als ich damals meinen Arbeitsplatz verließ, dachte ich‚ ,jetzt breche ich zu einem großen Abenteuer auf’, ich hatte hohe Erwartungen.” Doch die Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen. Nach sechs langen Wochen in einer ehemaligen US-Militärbasis außerhalb Tokios, wo er sich eine Kasernenstube mit vier weiteren Athleten teilen musste, betrat Ron die Bahn zum olympischen 10.000-m-Finale … und fühlte sich „wie gelähmt” – so gewaltig wirkte dieser Moment auf ihn.

„Meine Beine fühlten sich an wie Blei”, erzählt er gegenüber Take The Magic Step®. „Ich wurde von den ersten drei Läufern überrundet. Es war schrecklich.” Nach 29:53 Minuten kam er als 18. ins Ziel. „Beim Marathon lief es dann auf der ersten Hälfte der Strecke recht gut – doch dann rannten sie mir alle davon.“ Mit 2:25:34 Stunden belegte er schließlich Rang 19. Der dreifache Olympiateilnehmer lächelt reumütig und sagt: „Die schlechteste Leistung meines Lebens habe ich mir ausgerechnet für die Olympischen Spiele aufgehoben.“

Als Amateur der alten Schule, der seinen Beruf mit seiner Leidenschaft – dem Laufen – verbindet, wurde er zum Boston-Marathon eingeladen, nachdem er 1970 beim Athen-Marathon einen Kursrekord aufgestellt hatte. Es gab nur ein Problem: Ron konnte die Reise nach Amerika nicht bezahlen. „Damals gab es kein Preisgeld: An einem Osterwochenende gewann ich drei große Rennen und bekam dafür ein Paar Bettlaken, eine Küchenwaage und einen Picknick-Korb.“ Schließlich ließen Menschen in seiner Heimatstadt und andere Athleten den Hut herumgehen und sammelten so das nötige Geld für die Reise.

Kampf mit den Elementen – Ron beim Boston-Marathon 1970. © Boston Athletic Association
Kampf mit den Elementen – Ron beim Boston-Marathon 1970. © Boston Athletic Association

In Boston wartete kein schickes Hotelzimmer auf Ron: Jock Semple, der legendäre oberste Boss des Boston-Marathons, erwartete ihn am Flughafen und brachte ihn zu einer Familie nach Winchester, die Ron noch nie zuvor gesehen hatte. Dann, bei sechs Grad Celsius, in durchnässten Laufschuhen, bei strömendem Regen und heftigem Gegenwind lief Ron alleine an der Spitze und überquerte die Ziellinie in 2:10:30 Stunden – damit unterbot er den Kursrekord um mehr als drei Minuten. „Ich hatte keine Ahnung, welche Zeit ich lief; ich hatte keine Uhr und die Meilenmarkierungen waren seltsam, auf einer stand beispielsweise ‚noch 4 ¾ Meilen’. Ich konnte es zunächst nicht glauben, als ich erfuhr eine persönliche Bestzeit von 2:10 gelaufen zu sein. Für den Sieg bekam ich eine Medaille und eine Schüssel Rinderragout”, erzählt er lachend. Zwei Tage nach unserem Gespräch gewann Geoffrey Mutai das 42,195-km-Rennen von Hopkinton nach Boston mit 2:03:02 Stunden, der schnellsten je gelaufenen Zeit, und fuhr mit 225.000 US-Dollar zurück nach Kenia!

Mit 72 Jahren liefert Ron ein faszinierendes Beispiel für die Vergangenheit – eine Zeit, in der es Marathonläufern verboten war, vor der 10-Meilen-Marke Wasser zu trinken. „Die Regeln waren streng”, erinnert er sich. „Wenn dir ein Zuschauer einen Becher Wasser anbot, hast du dich nicht gewagt, ihn anzunehmen. Wenn ein Offizieller dich beobachtet hätte, wärst du aus dem Rennen geflogen.”

Alvaro Mejia, Uta Pippig, Robert de Castella und Ron Hill (von links) beim „Breakfast of Champions” am Boston-Marathon-Wochenende. © www.photorun.net
Alvaro Mejia, Uta Pippig, Robert de Castella und Ron Hill (von links) beim „Breakfast of Champions” am Boston-Marathon-Wochenende. © www.photorun.net

Auch heute noch, lange nach seiner aktiven Wettkampfzeit, wird er in Läuferkreisen auf der ganzen Welt bewundert, weil er wirklich jeden Tag läuft. Die Insider kennen Ron und seine Serie, „The Streak”. Am 20. Dezember 1964 absolvierte er einen Trainingslauf über zehn Meilen – und seitdem hat er an keinem einzigen Tag das Training ausgelassen. „Ich komme auf 16.800 Tage”, sagt er sachlich. Er hatte es trotz einer Ballenzeh-Operation geschafft, eine Woche lang jeden Tag mithilfe einer Krücke eine Meile humpelnd in 27 Minuten zurückzulegen. Fast hätte das tägliche Laufen in den Neunzigern ein jähes Ende gefunden, als er sich bei einem Frontalzusammenstoß mit einem Auto eine doppelte Fraktur des Brustbeins zuzog. „Zum Glück war ich an diesem Tag schon gelaufen“, sagt er. „Am nächsten Tag wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Als meine Frau und meine Mutter einkaufen gingen, schlich ich mich nach draußen und lief eine Meile. Ich konnte fühlen, wie sich die Knochen bewegt haben.” Die Ehrung beim traditionellen Treffen der Boston-Gewinner am 16. April hat deutlich gezeigt, welch großen Respekt die anderen Läufer vor „The Streak” haben. Die Boston-Sieger Rob de Castella (1986) und Geoff Smith (1984 und 1985) begrüßen Ron mit den Worten: „How’s the streak?” Was nichts anderes bedeutet als: Ron, was macht der tägliche Lauf?

Ron zusammen mit David Wright nach dem Interview. © David Wright
Ron zusammen mit David Wright nach dem Interview. © David Wright

Im vergangenen Jahr wurde er eines Tages von einer Frau ausgeschimpft, die ihn in seinem Wohnort durch die Straßen rennen sah: „Rennen ist schlecht für Ihre Knie.” Worauf er entgegnete: „Gute Frau, ich bin mit diesen Knien schon 150.000 Meilen weit gerannt – und sie funktionieren immer noch sehr gut”. Das wäre ihr sicher auch aufgefallen, wenn sie am Tage nach unserem Wiedersehen in Boston dabei gewesen wäre. Dann hätte sie gesehen wie Ron beim 5-km-Rennen der B.A.A. 25:17 Minuten rannte, mit einem Durchschnitt von 8:09 pro Meile und der Startnummer 1970, um das Jahr seines Boston-Sieges zu feiern.

Als wir uns verabschieden, wirft Ron noch einen Blick auf den alten Zeitungsartikel und hält einen Moment lang inne. „An diesem Tag hatte ich noch keine Ahnung davon, welch ein wundervolles Leben noch vor mir liegt”, sagt er lächelnd.