Die ergreifende Lebensgeschichte von Billy Mills: Aus tiefer Verzweiflung zur olympischen Goldmedaille in Tokio 1964
An der Startlinie des 10.000-Meter-Finales bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio war Billy Mills, der Leutnant einer US-Marine-Einheit, nur einer von vielen Läufern. Weder die Medien noch seine Konkurrenten hatten mehr von ihm erwartet als ein ganz passables Rennen und ein Zieleinlauf im Mittelfeld. Für den jungen Läufer indianischer Abstammung aus Süd-Dakota war eine Medaille nur ein Traum.
Doch dann versetzte Billy die Laufwelt in Erstaunen.
Es war einer der verblüffendsten Momente in der Geschichte der Olympischen Spiele: Der 26-jährige Außenseiter lief die 10.000 Meter fast eine Minute schneller als er jemals zuvor über diese Distanz gerannt war. In der letzten Runde dieses unvergesslichen Rennens blieb Billy den beiden führenden Läufern dicht auf den Fersen, wobei er kurzzeitig eingekeilt wurde. Unbeirrt davon rannte er jedoch auf der Zielgeraden los und durchlief schließlich nach einem der stärksten Schlusssprints in der Geschichte des olympischen 10.000-m-Laufes als Erster das Zielband. Es war die erste und bislang einzige olympische Goldmedaille über 10.000 Meter, die jemals von einem US-Amerikaner gewonnen wurde.
Bis zu diesem magischen Moment in Tokio war Billys Leben alles andere als einfach. Als Zwölfjähriger wurde er Vollwaise und wuchs zunächst unter schwierigen Bedingungen in der trostlosen Umgebung des Pine Ridge Indianerreservats auf. Später entdeckte er mit der Unterstützung seiner Familie und Mentoren seine wahre Leidenschaft: das Laufen.
Heute arbeitet Billy für seine Wohltätigkeitsorganisation ‚Running Strong for American Indian Youth’ und spricht vor Zuhörern aus der ganzen Welt über sein beeindruckendes Leben und welche Lehren er daraus gezogen hat. Billy ist seit 48 Jahren glücklich mit seiner Frau Pat verheiratet. Take The Magic Step®‘s Duncan Larkin sprach mit dem Mann, der das scheinbar Unmögliche möglich machte.
*Am Ende dieses Interviews erzählt Billy auf sehr persönliche und emotionale Weise einige überraschende Details aus seiner dramatischen Vergangenheit und berichtet, wie Amerika um ein Haar diese Legende verloren hätte.
Erzählen Sie uns von Ihrer Wohltätigkeitsorganisation ‚Running Strong for American Indian Youth’.
Billy Mills: Ich bin sehr stolz, denn wir haben diese förmlich aus dem Nichts aufgebaut und konnten bereits mehr als 100 Millionen US-Dollar an Spenden einnehmen. So viele Menschen tragen dazu bei, dass diese Organisation erfolgreich ist. Ich konnte sogar mit einem Freund, dem großartigen afrikanischen Läufer Kip Keino, zusammenarbeiten. Er gründete ein Kinderheim in Nairobi, Kenia, und ich wollte ihm dabei helfen. Also haben wir uns einige Male mit seiner Frau Phyllis getroffen. Danach bauten wir die Initiative ‚Christian Relief Services’ auf, die von Eugene Krizek geleitet wird. Der wiederum rief ‚Bread and Water for Africa’ ins Leben. Dieses Projekt läuft unter der Führung von Phyllis, was wiederum für Kip hilfreich ist.
Wir tun sehr viel dafür, Kinder und Jugendliche zu unterstützen. Wir verhelfen ihnen zu größerer Stabilität in ihrem Leben, indem wir ihnen eine Infrastruktur und ein Umfeld bieten, das für die meisten von uns eine Selbstverständlichkeit ist. Es sind diese einfachen Dinge, die in der Entwicklung eines Mädchens oder eines Jungen sehr viel verändern können. Außerdem versuchen wir, junge Athleten zu ermutigen; nicht nur, indem wir ihnen Trainingsratschläge geben, sondern auch, indem wir ihr Selbstvertrauen stärken, damit sie ihre Träume realisieren können. Fitness, Ernährung und eine gesunde Lebensweise, all das gehört zu den Dingen, die wir den Kindern nahebringen möchten, mit dem Ziel, dass sie sich zu positiv denkenden Erwachsenen mit einem gesunden Selbstvertrauen entwickeln.
Der Name unserer Wohltätigkeitsorganisation enthält zwar die Begriffe ‚Kinder und Jugendliche’, doch wir versuchen, allen Menschen indianischer Abstammung zu helfen. So kümmern wir uns um die Infrastruktur im Reservat. Erst kürzlich haben wir uns beispielsweise mit einem Mohawk-Indianer namens Tom Cook zusammengetan, der im Reservat einen Garten mit biologischem Anbau angelegt hat. Wir griffen Toms Idee auf und haben sie erweitert, so dass noch viel mehr Menschen die Möglichkeit bekamen, solche Gärten anzulegen. Darüber hinaus errichteten wir zwei Dialysekliniken in Süd-Dakota: eine in Eagle Butte und eine andere in Pine Ridge. Eine weitere Dialyseklinik unterstützen wir finanziell. Den älteren Menschen helfen wir dadurch, dass wir ihnen im Notfall einen Teil ihrer Heizkosten bezahlen. Wir nutzen eine Vielzahl an Möglichkeiten, die Infrastruktur aufzubauen und den indianischen Menschen in Amerika auf diese Weise zu ermöglichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Wenn Sie mit jungen Läufern zusammenarbeiten, welchen Rat geben Sie ihnen mit auf den Weg?
Billy: Streng genommen habe ich noch keinen jungen Athleten trainiert. Ich gebe ihnen vielleicht ein paar Trainingstipps. Was ich aber wirklich versuche, ist, ihnen die Geisteshaltung zu vermitteln, mit der sie ihre Ziele erreichen können. Die heutige Zeit ist eine andere, als ich sie damals als Läufer erlebt habe. Trotzdem nehme ich mich selbst als Beispiel. Wenn ich von der harten Arbeit erzähle, von den Hindernissen, die ich überwinden musste, und vom Erfolg, der daraus resultierte, dann möchte ich sie dazu inspirieren, ihrem Traum zu folgen. Sie bewundern mich für das, was ich erreicht habe, und ich versuche, ihren Glauben an mich in einen Glauben an sich selbst umzuwandeln. Dazu kommen auch ein paar Trainingstipps, von denen ich meine, dass sie ihnen helfen.
Normalerweise sage ich ihnen, dass sie auch ihre Grundschnelligkeit trainieren und dies am besten als eine feste Komponente in ihrem Trainingsplan verankern sollen. Der größte Teil meiner Arbeit besteht aber eher in ihrer psychologischen Betreuung. Dabei greife ich auf meine eigene Geschichte zurück, in der Hoffnung, die Jungs damit zu inspirieren.
Ich war immer mein eigener schärfster Rivale. Wenn ich mein ganzes Können mobilisierte und die beste Leistung erbrachte, zu der ich an diesem Tag fähig war und für die ich hart trainiert hatte, dann war das alles, was ich von mir verlangen konnte.
Dies versuche ich den jungen Athleten zu vermitteln, damit sie verstehen, dass sie bei sich selbst und nicht bei ihren Mitstreitern nach Möglichkeiten suchen müssen, ihren Traum zu realisieren. Wenn sie das beherzigen, dann können sie aufgrund ihres Trainings und ihres Talentes das Beste aus sich herausholen.
Ich denke, dieser Rat eignet sich für jedes Trainingsprogramm – in der Highschool, auf dem College, in der Weltklasse oder beim Freizeitsport, wenn es darum geht, durch Fitness mehr Lebensqualität zu erreichen.
Wenn Sie aufgrund Ihrer Erkenntnisse, die Sie aus Ihrem bemerkenswerten Leben gezogen haben, einen Rat weitergeben könnten, welcher wäre das?
Billy: Ich würde sagen, dass der Weg das Wichtige ist, nicht das Ziel. Die vielen kleinen Entscheidungen, die du Tag für Tag treffen musst, bestimmen dein Schicksal, nicht dein Talent. Letztlich ist es das Streben nach außerordentlicher Leistung, das dich zum Sieg führt. Wenn du diese Leidenschaft in dir entdeckst, dann hast du die Möglichkeit, dich darauf zu konzentrieren. In unserer indianischen Kultur heißt es, wenn du dich auf etwas konzentrierst, dann wirken Körper, Geist und Seele zusammen und motivieren dich, deinen Traum zu entdecken und zu verwirklichen.
Die Menschen begehen einen großen Fehler, wenn sie sagen ‚Ich muss motiviert werden’. Nur du selbst kannst dich motivieren! Vielleicht kann ich jemanden inspirieren, aber jeder Mensch muss zunächst von sich aus motiviert sein. Schau’ in dich hinein, glaube an dich selbst, arbeite hart daran, und deine Träume werden sich entfalten.
Nachdem Sie die Goldmedaille gewonnen hatten, hatten Sie das Gefühl, dass nun alles einfacher sein würde? Was haben Sie aus Ihren Erfolgen letztlich gelernt?
Billy: Ich habe daraus gelernt, dass man in seinem Leben eine Leidenschaft braucht. Mein Vater hat mir das immer in ganz einfachen Worten gesagt: „Folge deinen Träumen. In jedem Traum wohnt eine Leidenschaft. Jede Leidenschaft hat ihre Bestimmung.” Was ich von meinem Vater und meinem Highschool-Trainer, Tony Coffin, und anderen Menschen, die mich im Laufe meines Lebens begleitet haben, gelernt habe, ist etwas, das ich während all der Jahre den jungen Menschen mit auf den Weg gegeben habe. Dabei geht es nicht darum, wie man ein besserer Athlet wird, sondern wie man ein besserer Mensch wird. Mein Vater sagte immer zu mir: „Lerne dich selbst kennen und entdecke deine Sehnsucht.“ Und mit der Sehnsucht kommt die Selbstmotivation. Und mit der Motivation kommt die Arbeit. Und mit der Arbeit kommt der Erfolg.
Wo fanden Sie Ihre nächste Leidenschaft?
Billy: Nachdem ich meine Karriere als Weltklasse-Athlet beendet hatte, wurde mir klar, dass ich eine neue Passion finden musste. Was auch immer du im Leben erreichen willst, nachdem du erfolgreich gewesen bist, die Gesellschaft erwartet von dir, dass du auf deinem neuen Gebiet ähnlich große Erfolge erzielst. Wenn du keine neue Leidenschaft findest, wirst du frustriert sein. Ich fand meine neue Passion in der Versicherungsbranche. Hier hatte ich die Möglichkeit, anderen Menschen indianischer Abstammung dabei zu helfen, ihr Leben besser und sicherer zu machen. Das gab mir ein gutes Gefühl. Es war etwas völlig anderes, als der internationale Erfolg, den ich zuvor hatte, aber emotional war es für mich sehr lohnenswert und erfüllend. Ein weiteres Projekt, das mir die Chance gab, Probleme der amerikanischen Ureinwohner zu thematisieren und ihnen auf meine Art etwas zurückzugeben, war der Film „Running Brave”. Nachdem der Film erschienen war, wurde ich gebeten, auch in Zukunft karitativ zu arbeiten. Ich traf mich mit Eugene Krizek, und wir riefen ‚Running Strong for American Indian Youth’ ins Leben.
Dann hatte ich die Gelegenheit, zusammen mit Nicholas Sparks ein Buch mit dem Titel „Lessons of a Dakota” zu schreiben.
All diese wunderbaren Dinge wären fast nicht passiert, denn ich war anfangs sehr frustriert. Die Menschen hatten angenommen, dass ich, weil ich die Goldmedaille gewonnen hatte, auch der beste Versicherungsagent der Welt werden würde. Doch ich besann mich wieder auf meine Philosophie: ‚Höre in dich hinein, schaue nicht auf andere, arbeite hart, und du erntest Erfolg und Zufriedenheit.’
Diese Philosophie ermöglichte mir den erfolgreichen Übergang von der Goldmedaille zu einem sinnvollen und erfüllten Leben.
Wenn Sie heute auf Ihre Goldmedaille von 1964 zurückblicken, haben Sie das Gefühl, dass dieser Moment verblasst, oder ist er noch immer lebendig in Ihnen?
Billy: Vor 20 Jahren joggte ich regelmäßig alleine auf einem Radweg. Stellen Sie sich Folgendes vor: Ich mache einen langsamen Dauerlauf. Ich bin ganz alleine. Wohin wandern meine Gedanken ganz automatisch? Sie schweifen zurück in die Zeit, als ich für die Olympischen Spiele trainierte. Plötzlich wurde mir klar ‚Oh Gott, ich lebe in der Vergangenheit’. Also ging ich zu einem befreundeten Psychologen, und der sagte mir: „Nein, du lebst nicht in der Vergangenheit. Aber du hast dieses wichtige Ereignis in deinem Leben tief in deinem Unterbewusstsein vergraben.“ Er riet mir, die unterbewussten Gedanken, durch die ich noch immer in der Vergangenheit lebte, quasi zu überschreiben und durch etwas Kraftvolleres zu ersetzen. Ich folgte seinem Rat.
Seitdem ist mir klar, dass ich die Gedanken an den Glanz und die Bedeutsamkeit der Olympischen Spiele noch immer brauche und erlaube ihnen, immer weiter in mir zu reifen. Ich bin jetzt 71, und wenn ich alleine spazieren gehe, denke ich an die wundervollen Pfade meines Lebens und wie wertvoll sie für mich waren. Mir kommt mein Leben wie eine unendlich schöne Reise vor.
*Zum Schluss fragte Take The Magic Step diesen bemerkenswerten Mann, welche Erfahrungen sein Leben am nachhaltigsten beeinflussten und ihn dadurch zu einem Olympiasieger gemacht haben. Daraufhin erzählte Billy Mills mit emotionalen und leidenschaftlichen Worten davon:
Ich war am Boden zerstört, als meine Mutter starb. Ich war acht Jahre alt, und mein Vater sprach in Worten zu mir, die ich damals noch nicht verstehen konnte: „Sohn, deine Flügel sind gebrochen, aber eines Tages wirst du die Flügel eines Adlers haben.“ Durch meine Tränen konnte ich sehen, wie er einen Stock in die Hand nahm und damit einen Kreis auf den Boden malte. Ich erinnere mich noch an seine Worte: „Gehe in den Kreis und schließe deine Augen.“ Das tat ich. Er fragte: „Wie fühlst du dich?“ Ich war nur ein Kind und konnte nicht darauf antworten. „Was siehst du?“, fragte er mich. Wieder konnte ich darauf nicht antworten. Er klatschte in die Hände. Bumm! Ich hielt meine Augen geschlossen und fing an zu zittern. Er sagte: „Ich sage dir, was du fühlst; ich sage dir, was du siehst.“ Und er fuhr fort: „Du spürst Wut und Schmerz.“ Er sagte mir, dass ich mit solchen Gefühlen rechnen müsste, schließlich hatte ich gerade meine Mutter verloren. Er sagte: „Wahrscheinlich spürst du auch Hass in dir, weil Menschen dir Hass entgegengebracht haben. Eifersucht, weil du nichts von materiellem Wert besitzt. Doch die Eifersucht macht dich blind.“ Er sagte: „Du siehst nicht die Vorteile oder Werte unserer Kultur oder anderer Kulturen. Du siehst nicht das Gute in den Menschen. Du bist voller Selbstmitleid.“ Er sagte: „All diese Gefühle werden dich zerstören.“
Dann nahm er mich in den Arm und sprach: „Sohn, du musst tiefer schauen, ganz tief in dich hinein und hinter den Schmerz, die Wut, den Hass, die Eifersucht und das Selbstmitleid blicken, denn genau dort liegen deine Träume versteckt.“ Immer wieder sprach er so zu mir, bis ich zwölf Jahre alt war. Dann starb auch er, mit nur 49 Jahren. Er sagte: „Du musst so tief nach deinem Traum suchen, bis etwas ganz Wundersames mit dir geschieht und du erkennst, wer du wirklich bist. Es gibt nur ein Schicksal in unserem Leben, das größer ist als das, das wir selbst wählen, und das ist das Schicksal, das unser Schöpfer für uns bereithält.”
Im ersten College-Jahr war ich nahe dran, Selbstmord zu begehen. Es war bei einer Cross-Meisterschaft. Bei den Fotoaufnahmen hatte man mir gesagt, ich solle aus dem Bild gehen. Solche Situationen hatte es schon häufiger gegeben, mindestens drei- oder viermal. Zu jener Zeit dachte ich, das hätte etwas mit meiner Hautfarbe zu. Diesmal brach ich zusammen. Es waren viele verschiedene Faktoren, die gleichzeitig auf mich einstürzten. Ich war all der Dinge, die ich erlebt hatte, müde geworden. Damals hatte ich noch nicht die nötige Reife, nach einer Lösung für meine Probleme zu suchen. Ich sah keinen vernünftigen Grund, weshalb man mich von den Fotos ausschloss. Ich begriff nicht, dass es auch andere als rassistische Gründe dafür geben konnte. Ich wusste nur, dass die Zeit gekommen war aufzugeben. Also folgte ich nicht der Aufforderung, ging danach zurück auf mein Zimmer und beschloss, mir das Leben zu nehmen.
Ich stehe auf einem Stuhl, und ich werde springen. Doch irgendwie hörte ich meinen Vater zu mir sprechen. Ich hörte seine Stimme nicht mit meinen Ohren, vielmehr spürte ich sie auf meiner Haut. „Nicht! Nicht!”, rief er mir zu. Das war irre. Ich glaube, mein Schöpfer schickte mir die Stimme meines Vaters. Ich stieg vom Stuhl, und irgendetwas ließ mich zu einem Stift greifen und folgende Worte aufschreiben: „Goldmedaille. 10.000-Meter-Lauf. GLAUBE. GLAUBE. GLAUBE.” Und stehenden Fußes begann ich mit dem Training für die Spiele.
Einige Jahre später: Es ist der 14. Oktober 1964, und ich komme aus der Kurve im Olympiastadion in Tokio. In Führung ist Ron Clarke, der australische Favorit und amtierender Weltrekordler, an zweiter Stelle der Tunesier Mohammed Gammoudi und dann ich. Mein Blutzuckerspiegel fällt ab. Noch rund 280 Meter bis zur Ziellinie. Ich entscheide ganz bewusst, den beiden etwa zehn Meter Vorsprung zu geben. In der Vergangenheit war es öfter vorgekommen, dass ich, sobald ich den abfallenden Blutzuckerspiegel spürte und jemand dreihundert Meter vor dem Ziel zum Sprint ansetzte, mit ihm mitzog, nur um dann beim Endspurt einzubrechen. Also beschloss ich, ihnen zehn Meter Vorsprung zu geben. Erst auf den letzten 100 Metern wollte ich versuchen, die beiden einzuholen. Wir sprinten also aus der letzten Kurve. Mehr als 75.000 jubelnde Menschen füllen das Stadion in Tokio, doch alles, was ich höre, ist das Schlagen meines Herzens. Clarke and Gammoudi rennen Kopf an Kopf. Ich bin gut sieben Meter hinter ihnen. Ich bin nur noch gut fünf Meter hinter ihnen. Und dann sind es nur noch dreieinhalb Meter, und ich denke: ‚Jetzt muss ich alles geben … vielleicht schaffe ich es bis ins Ziel.’ Doch dieser überrundete deutsche Läufer läuft jetzt direkt vor mir, und ich bin eingekeilt. Tausend Gedanken schießen auf diesen letzten 90 Metern durch meinen Kopf. Zuerst: ‚Kann ich auf die innere Bahn wechseln?’ Ich kann nicht, auf der Innenbahn laufen die überrundeten Läufer. Ich muss vorbei und weiß gleichzeitig, dass mich das drei bis vier Meter kosten kann. Doch plötzlich, der Deutsche musste gespürt haben, dass ich gleich an ihm dran bin, wechselte er nach außen auf die fünfte Bahn. Super! Die vierte Bahn war jetzt frei für mich.
Ich sagte mir: ‚Jetzt! Jetzt!’ Und während ich den deutschen Läufer überhole, kann ich aus den Augenwinkeln den Adler auf seinem Trikothemd sehen. Sofort fallen mir wieder die Worte meines Vaters ein: ‚Eines Tages wirst du Flügel wie ein Adler haben.’ In diesem Moment wusste ich, dass ich dieses Rennen gewinnen konnte. ICH KÖNNTE GEWINNEN! Doch Clarke und Gammoudi sind immer noch vor mir. Auf den letzten 30 oder 40 Metern dachte ich für einen kurzen Augenblick, dass es nach menschlichem Ermessen gar nicht möglich sein würde, die beiden noch zu überholen. Aber ich habe mir gesagt ‚Glaube! Glaube!’ Du musst es jetzt schaffen.’ Ich muss wohl eine Million Mal gedacht haben, dass ich einer Goldmedaille vielleicht nie mehr so nah kommen würde. Als hätte ich die Flügel eines Adlers, sprintete ich los …. und ich spürte, wie das Band über meiner Brust zerriss. Ich hatte die Goldmedaille gewonnen und war fast eine Minute schneller als jemals zuvor. Gammoudi gewann Silber und Clarke Bronze.
Und dann passierte etwas sehr Merkwürdiges. Nach dem Rennen hielt ich Ausschau nach dem deutschen Läufer – und siehe da, es gibt gar keinen Adler auf seiner Brust. Als er aber seine Aufwärmjacke anzieht, sehe ich den deutschen Bundesadler auf seinem Rücken. In der Tradition der amerikanischen Ureinwohner überbringt der Adler Botschaften an Gott. Es war fast so, als hätte Gott meine Wünsche, meine Sehnsüchte und meine Leidenschaft erhört. Ich spürte, dass dieser Moment ein Geschenk für mich war – ein Geschenk einer höheren Macht.
Heute schaue ich mit den Augen eines 71-jährigen Mannes auf mein Leben zurück. Es fehlte nicht viel und ich hätte Selbstmord begangen. Es fehlte nicht viel und meine Wut und mein Hass hätten mich zerstört. Ich lebte in Armut. Dass ich mich nicht aufgegeben habe, liegt an meiner Frau Pat, an meinem Vater, an meinem Mentor und Laufcoach an der Marineakademie, Tommy Thompson sen., an Tony Coffin, meinem Trainer an der Highschool, an meinen Brüdern und Schwestern – an den Menschen, die mir Richtung gaben. Diese Richtung gab mir Hoffnung. Doch wenn ich all die Inspiration, die ich durch diese Menschen erfahren habe, objektiv betrachte, so muss ich sagen, dass der bedeutendste und einflussreichste Mensch in meinem Leben meine Ehefrau Pat ist. Ohne sie hätte ich kein olympisches Gold gewonnen. Ohne sie hätte ich kein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut. Und wer weiß, vielleicht hätte es ohne sie einen weiteren Suizidversuch gegeben.
Über vieles davon war ich mir nicht wirklich bewusst, bis vor sieben Jahren, als ich an Silvester bei einem 5-km-Fun-Run mitmachte und nicht nur von meinen Töchtern, sondern auch von meiner Frau abgehängt wurde! Sie warteten auf den alten Knaben mit seinen schmerzenden Knien, dass er durchs Ziel läuft. Nachdem ich im Ziel war, gingen wir frühstücken. Am nächsten Morgen sagte Pat zu mir: „Ich werde aufhören, dich zu bemuttern.” Mein erster Gedanke war: ‚Oh Gott, sie will sich von dir scheiden lassen.’ Doch stattdessen fuhr sie fort: „Ich habe dich bei der Realisierung deines Traums unterstützt, eine Goldmedaille zu gewinnen. Ich habe dich bei deinem Ziel unterstützt, ein erfolgreiches Unternehmen aufzubauen. Jetzt ist es an der Zeit, mich zurückzunehmen und mich meinen eigenen Träumen zu widmen.“ Also ging sie wieder zur Schule und machte ihren Master in Kunst. Sie ging für einen Monat nach Paris und studierte die Werke in Monets Garten. Falls es Sie interessiert, gehen Sie einmal auf ihre Website: www.studiotupos.gallery. Tupos ist griechisch und bedeutet ‚Impression’. Sie malt so wundervolle Bilder. Sie folgt ihrer Leidenschaft, und ich trage für sie die Farbe und die Pinsel. Sie gibt Kunstunterricht auf einigen Kreuzfahrtschiffen. Und jetzt bin ich ihr Assistent. Und wissen Sie was? Ich könnte kein besserer Assistent sein!
Aktualisiert am 5. Januar 2017
- Erschienen am 14. January 2011
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