Neuromuskuläre Therapie: Weit mehr als nur eine spezielle Massageform

Von Heather L. Fenity, NC TMB in Zusammenarbeit mit Uta Pippig
Die Abbildung zeigt einige der typischen Triggerpunktlokalisationen unseres Körpers. © imipolex / Fotolia (angepasst von Take The Magic Step®)
Die Abbildung zeigt einige der typischen Triggerpunktlokalisationen unseres Körpers. © imipolex / Fotolia (angepasst von Take The Magic Step®)

In den vergangenen 60 Jahren hat sich die Neuromuskuläre Therapie (NMT) zu einer anerkannten und effektiven Methode entwickelt, mithilfe derer verschiedene Arten von Verletzungen und chronischen Schmerzen diagnostiziert, behandelt sowie diesen vorgebeugt werden kann. So findet die NMT inzwischen große Beliebtheit unter den dafür ausgebildeten Therapeuten, die durch ein umfangreiches Verständnis der Biomechanik und der physischen Struktur des Körpers es ermöglichen, den Patienten mit bewährten NMT-Techniken bei der Heilung zu unterstützen.

Die NMT umfasst die manuelle Anwendung spezifischer Druck-und Gleittechniken zur Diagnose und Therapie von Weichgewebedysfunktionen (Definition nach Chaitow(1)). Mit dieser Methode kann eine Entspannung des betroffenen Gewebes und in der Folge eine Schmerzlinderung herbeigeführt werden. So wird die NMT heutzutage nicht mehr nur im Bereich der Massage-Therapie angewandt, sondern ebenfalls in der Schmerztherapie, Ergotherapie, Physiotherapie, Krankenpflege, Zahnmedizin, Chiropraktik, Osteopathie sowie in anderen medizinischen Fachrichtungen.

Die Entwicklung der NMT begann in England Mitte der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Etwa zur gleichen Zeit stellte man in den USA identische Theorien über diese Therapieform auf. Obwohl beide Gruppen nichts voneinander wussten, waren ihre Erkenntnisse und Techniken dennoch sehr ähnlich. Diese zufällige Übereinstimmung resultiert vermutlich aus der Tatsache, dass NMT auf der Grundlage einer umfassenden Kenntnis der Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers entwickelt wurde und auf physiologischen Prinzipien basiert.

Dabei ist es wichtig, zwischen der NMT und der Tiefenmassage zu unterscheiden. Die Tiefenmassage lindert chronische Spannungsschmerzen im Körper entweder durch langsame Streichbewegungen über die verspannten Körperregionen oder durch tiefgehenden Druck mit den Fingern auf diese Bereiche. Hier arbeitet man entweder entlang oder entgegen der Verlaufsrichtung der Muskeln, Sehnen und Faszien. Sie wird auch deshalb Tiefenmassage genannt, weil sie sich vor allem auf die tief liegenden Schichten des Muskelgewebes konzentriert.

Die NMT hingegen ist eine spezielle Massageform.

Sie umfasst eine Reihe von Behandlungsmethoden, die auf den Fähigkeiten und den anatomischen Kenntnissen des Therapeuten sowie seiner präzisen Palpation – d.h. der Untersuchung des Körpers durch Betasten – basieren. Das Behandlungskonzept unterscheidet sich von normalen Entspannungsmassagen dadurch, dass nicht nur die Muskeln, Bänder und Weichteile des Körpers angesprochen werden, sondern auch das Nervensystem (daher auch der Begriff „neuromuskulär“ – wörtlich übersetzt bedeutet dies „sich auf Nerven und Muskeln beziehend oder diese beeinflussend“). Im Rahmen dieses Artikels soll der Begriff der Neuromuskulären Therapie im weiteren Sinne verwendet werden und sich nicht auf spezifische Aspekte einer bestimmten Schule oder eines speziellen Programms beschränken.

© Betty Shepherd
© Betty Shepherd
Da die NMT ein Gleichgewicht zwischen dem Zentralen Nervensystem (ZNS) und dem muskuloskelettalen System erzeugen kann, eignet sie sich gut als manuelle Therapie für Menschen mit Schmerzen. So wird die NMT u.a. bei chronischen Schmerzen, Rückenschmerzen, Verspannung verschiedener Triggerpunkte in den Muskeln, Nervenschmerzen, Karpaltunnel-Syndrom, Kiefergelenkdysfunktion, Fibromyalgie, Migräne, zur Verbesserung der Bewegungsfähigkeit sowie zur Korrektur von Bewegungsmustern (Pattern) angewendet.

Mithilfe von NMT-Techniken wie zum Beispiel der Propriozeptiven Neuromuskulären Fazilitation (PNF) kann ein Therapeut die Schmerzpunkte eines Menschen effektiv behandeln. Die PNF wird als eine Behandlungsmethode definiert, die auf dem Zusammenspiel zwischen Nerven und Muskulatur aufbaut. Dabei werden die Propriozeptoren des entsprechenden Muskels (darunter versteht man die Druck- und Dehnungsrezeptoren des Muskels, über die Signale von Haltung [statisch] und Bewegung [dynamisch] an das ZNS gelangen) u.a. durch Dehnung, Druck oder Entspannung angeregt. Durch verschiedene und sich wiederholende Bewegungsabläufe, die der Therapeut vorgibt und oftmals mit dem Patient gemeinsam ausführt, kommt es schließlich zu einer Entspannungsreaktion des Muskels. Damit kann nicht nur eine Schmerzlinderung erreicht, sondern zugleich der Bewegungsablauf regeneriert und verbessert werden(2).

Eine weitere PNF-Methode nutze ich zum Beispiel gern, wenn ein Patient mit chronischen Verspannungen oder starken Schmerzen im unteren Rückenbereich oder der Lendenwirbelsäule zu mir kommt. Dabei erzeuge ich entweder einen Gegendruck an der Wirbelsäule, der dem Schmerzlevel im Muskel entspricht, oder ich übe einen Gegendruck auf die Hüften aus. Indem ich mir das Zusammenspiel zwischen Nerven und Muskulatur bei dieser sanften Methode zunutze mache, kann ich die Schmerzempfindlichkeit mindern und somit eine betroffene Körperregion bearbeiten, die andernfalls zu empfindlich wäre, um behandelt zu werden. Sie können sich das so vorstellen, dass die Nervensignale, die die Botschaft „Schmerz“ zum Gehirn senden, quasi „ausgeschaltet“ werden. Damit steht diese Behandlung im Gegensatz zu der direkten Druckausübung, wie sie z.B. bei der Tiefenmassage angewendet wird.

Diese Vorzüge hat sich auch Uta schon häufig zunutze machen können. „In den 90er Jahren war die NMT, speziell verschiedene PNF-Methoden, für mich entscheidend bei der Unterstützung meines umfangreichen Trainings. Ein Therapeut hat mich mehrmals in der Woche behandelt und mit verschiedenen Muskeln und Muskelgruppen – oftmals mit den am meisten beanspruchten – gearbeitet. So konnte ich nicht nur Verletzungen vorbeugen, sondern auch meine Muskeln einige Stunden nach einer starken Belastung, z.B. nach einem intensiven Lauftraining, lockern und entspannen. Außerdem gelang es mir dadurch, meine Haltung sowie das Zusammenspiel meiner Muskeln zu optimieren, was wiederum dazu beitrug, dass ich entspannter lief und so meine Lauftechnik auch bei hohem Tempo aufrechterhalten konnte.“ In den vergangenen 20 Jahren etablierte sich die NMT mit ihren verschiedenen PNF-Methoden nicht nur in den medizinischen Fachbereichen, wie zum Beispiel in der Schmerztherapie, sondern sie wird auch in der Physiotherapie und in der Sportphysiotherapie bei der Betreuung von Freizeit- und Spitzensportlern erfolgreich angewendet.

Laut dem Buckland Massage & Neuromuscular Center ist es das Ziel der NMT, Menschen sowohl von chronischen als auch akuten Schmerzen zu befreien, indem sie bei den fünf Hauptursachen für die Entstehung von Schmerz ansetzt:

  • Ischämie (Blutleere): zu geringer Blutfluss im weichen Gewebe, was eine Überempfindlichkeit bei Berührung auslöst.
  • Triggerpunkte: stark gereizte Punkte in den Muskeln, die Schmerzen an andere Körperteile weiterleiten.
  • Kompression der Nerven: Druck auf einen Nerv durch Gewebe, Knorpel oder Knochen.
  • Haltungsschwächen: Ungleichgewicht des muskulären Systems als Folge fehlerhafter Bewegungsmuster, d.h. der Körper bewegt sich nicht entsprechend seiner natürlichen vertikalen und horizontalen Ebenen. Langzeitige schlechte Haltungsgewohnheiten sind die häufigste Ursache für die von diesem Element ausgelösten Schmerzen.
  • Biomechanische Funktionsstörung: Ungleichgewicht des Muskel- und Skelettsystems, das fehlerhafte Bewegungsmuster zur Folge hat (z.B. falsches Heben schwerer Lasten, Schreiben am Computer, schlechte Bewegungsabfolge beim Golf- oder Tennisschlag).

Eine Ischämie behandelt die NMT durch eine manuelle Therapie, die die Durchblutung anregt. Ist der Blutfluss so gering, dass eine Überempfindlichkeit bei Berührung entsteht, ist es möglich, dass eine tiefgehende, mit Druck ausgeübte Behandlung, nicht angewendet werden kann. In diesem Fall bieten die Techniken der NMT dem Therapeuten alternative Wege, die Schmerzen ohne zusätzliche Beschwerden zu beheben. Die Empfindlichkeit des Patienten kann zum Beispiel gemindert werden, indem man sich dem schmerzhaften Gewebe annähert. Hierbei wird die Haut in Richtung der empfindlichen Stelle geschoben, während diese gleichzeitig bearbeitet wird. Dadurch kann der Therapeut nicht nur größeren Druck ausüben, sondern diese Stelle auch länger behandeln, was eine größere Entspannung und positive Veränderung bewirkt, ohne den Schmerz für den Patienten zu verstärken.

Triggerpunkte werden in der NMT dadurch behandelt, dass man die stark gereizten Punkte findet, die Auslöser von lokalen sowie auf andere Körperteile übergehende Schmerzen sind, und diese von den Schmerzen befreit. Diese Form der Therapie nennt sich Triggerpunkttherapie. Dabei wird Druck auf den gereizten Bereich ausgeübt und so lange gehalten, bis die Intensität des Schmerzes nachlässt. Diese Behandlungsform wirkt durch mehrere Schichten hindurch. Ziel ist es dabei, den Schmerzgrad für den Patienten so niedrig wie möglich zu halten. Häufig ist ein extrem gereizter Punkt so angespannt, dass er taub ist. Mithilfe einer kontinuierlichen Behandlung durch die angespannten Schichten hindurch, „wacht dieser jedoch förmlich auf“ und reagiert plötzlich empfindlich auf Berührung. Erfolgt die Druckausübung mit dem richtigen Maß und zum richtigen Zeitpunkt, können die tiefen Schichten eines Triggerpunktes gelockert und somit die Übertragung des Schmerzes auf andere Körperteile vermindert oder sogar gestoppt werden.

Wenn zum Beispiel ein Punkt im oberen Trapezmuskel (lat. Musculus Trapezius) gereizt ist, sendet dieser Schmerzsignale zum Kopf und zu den Schläfen, was wiederum Kopfschmerzen auslöst. Wendet man nun die Triggerpunkttherapie im oberen Trapezius an, kann die Schmerzübertragung dadurch reduziert werden, dass die Größe und Stärke des reizauslösenden Punktes verkleinert und die übertragenen Schmerzen damit gestoppt werden. Aufgrund meiner Erfahrung kann ich bestätigen, dass diese Art des Kopfschmerzes, die von einer Verspannung in den Schultern ausgelöst wird, am besten mit dieser direkten Methode der NMT behandelt werden kann. Nach einer solchen Tiefenbehandlung beende ich die Sitzung gewöhnlich mit einem leichten Stretching, um das Muskelgewebe zu dehnen, das über einen langen Zeitraum konstant angespannt und somit verkürzt war. Mit dieser Technik wird der Patient nicht nur von seinen Schmerzen erlöst, sondern er kann darüber hinaus auch – nun schmerzfrei und bewusster – an seiner individuellen Haltung arbeiten.

Bei einer Nervenkompression gilt es, zunächst exakt die Stelle zu finden, von welcher der Schmerz ausgeht. Zudem wird die Bewegungsfähigkeit der Gelenke im ganzen Körper untersucht, was wiederum Aufschluss darüber geben kann, ob die normale Funktionstätigkeit eingeschränkt ist, welche Ursache dieser Einschränkung zugrunde liegt, ob die Funktionstätigkeit wieder gesteigert werden kann und mit welchen Muskeln gearbeitet werden muss, um eine Entspannung sowie eine Steigerung der Bewegungsfähigkeit zu erreichen.

Eine Technik, die es nur in der NMT gibt, ist die Dehnung gegen Widerstand, die sich Muskelenergietechnik nennt und die eine Steigerung der Bewegungsfähigkeit ermöglicht. Hierbei werden die Neuronen in den Sehnen der Muskeln angesprochen und die Muskeln daran „erinnert“, dass sie durchaus länger sein können, ohne dass dem Körper daraus ein Schaden oder ein Mangel an Stabilität entsteht. Durch ein umfassendes Training sowie die regelmäßige Untersuchung der Kompressionssyndrome, kann ein NMT-Therapeut die von Kompression betroffenen Nerven freisetzen. Er kann dem Patienten darüber hinaus aufzeigen, wie dieser durch richtige Dehnungsübungen dauerhaft eine gesunde Ausführung der Gelenkbewegungen aufrechterhalten kann. Falls nötig, unterstützt er den Patienten auch dabei herauszufinden, ob eine Weiterbehandlung bei einem anderen Therapeuten erforderlich ist.

Haltungsschwächen und biomechanische Funktionsstörungen werden im Rahmen der Neuromuskulären Therapie vor allem durch eine Aufklärung der Betroffenen behandelt. Viele Menschen gewöhnen sich an die Art, wie sie sich im Alltag bewegen und sind sich nicht bewusst darüber, wie sie sitzen, stehen oder gehen. Fehlhaltungen können die Ursache sein, und in diesem Fall kann eine umfassende Aufklärung der Betroffenen bereits sehr hilfreich sein. Nur wenn wir unseren Körper, seine Biomechanik und physische Struktur verstehen lernen, kann uns ein NMT-Therapeut erklären, was ein gesunder Körper braucht und wie ein Ungleichgewicht sowie die daraus resultierende Funktionsstörung und Fehlhaltung den Körper belasten und eine ganze Reihe von Problemen mit sich bringen können. Wenn wir die Sensibilität des Betroffenen für sich und seinen Körper steigern sowie die Zusammenarbeit von Patient und Therapeut verbessern können, ist Aufklärung die effektivste Art der Behandlung – gepaart mit dem Wunsch nach positiven Veränderungen.

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Sollten Sie vor der Entscheidung stehen, welche Art der Therapie für Sie und Ihre Vorstellungen am besten geeignet ist, kann ein klares Verständnis des Unterschiedes zwischen der Massage-Therapie und der Neuromuskulären Massage sehr hilfreich sein. Therapeuten der NMT zeichnen sich nicht nur durch ein umfassendes Verständnis des Körpers, von dessen Systemen und ihrem empfindlichen Zusammenspiel aus, sondern besitzen zudem grundlegende Kenntnisse der NMT-Techniken sowie deren praktischer Anwendung. Der Grundgedanke der NMT ist nicht nur die Verminderung und Beseitigung von Schmerz, sondern auch die Wiederherstellung und Erhaltung der Körperfunktionen sowie die Aufklärung des Patienten darüber, wie zu Hause weitere Fortschritte erzielt werden können. Die Einbindung des Patienten in seine eigene Heilung ist ein grundlegendes Element der NMT. Diese Eigenverantwortlichkeit hat einen großen Anteil daran, dass durch ein tieferes Körperverständnis ein gröβeres Wohlbefinden erlangt werden kann.

Der NMT steht eine vielversprechende Zukunft bevor, denn sie kann helfen, Menschen aufzuklären und sie zu positiven Veränderungen zu motivieren. Die gleichsame Betrachtung anatomischer sowie physiologischer Aspekte ermöglicht dabei einen ganzheitlichen, informativen Ansatz für ein gesundes Leben.


WICHTIGER HINWEIS:Die oben genannten Inhalte ersetzen keinen Besuch oder eine Konsultation Ihres Arztes oder anderer Gesundheitsexperten oder eine Beratung durch diese. Weitere Informationen können Sie in unseren Nutzungsbedingungen finden.

Quellenangaben:

1) Chaitow L: Neuromuskuläre Techniken in der manuellen Medizin und Osteopathie. Urban und Fischer Verlag München, 2002.

2) Deutscher Verband für Physiotherapie, Zentralverband für Physiotherapeuten/Krankengymnasten e.V.: Landesverband Baden-Württemberg e.V.: Bewegungsfreiheit wiedergewinnen durch PNF. www.physio-verband.de/patienteninformationen/methodenkonzepte/pnf.html, Stand März 2011.

3) Wenn Sie mehr über die Geschichte der NMT wissen möchten, lesen Sie auf Englisch diesen Artikel von Judith Walker Delany, LMT.

4) Um mehr darüber zu erfahren, inwiefern sich die NMT von der Tiefenmassage unterscheidet, lesen Sie die ,glossary section’ auf der Internetseite der Amerikanischen Massage-Therapie-Vereinigung (American Massage Therapy Association).

Aktualisiert am 14. August 2017
Aktualisiert am 11. März 2011
Erschienen im Dezember 2006