Laufen mit Herz und Verstand

Von Peter Könnicke
© www.photorun.net
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Laufen bewegt! Ob in Berlin, London, Rom oder New York – es sind emotional bewegende Bilder, wenn Menschen nach 42 Kilometern jubelnd und vor Freude weinend über die Ziellinie laufen. Diese Bilder überwältigen und machen einen Teil der Faszination des Sports aus. Sie kehren in schöner Regelmäßigkeit wieder, während Unglücks- und Todesfälle zum Glück eine seltene Randerscheinung bleiben. Dennoch beschäftigen sich Medizin und Wissenschaft zunehmend mit dem Tod beim Laufen bzw. mit der Prävention vor möglichen Risiken.

Die tragischen Nachrichten – so selten sie sind – sind so alt wie die Legende vom Marathon selbst. Der laufende Bote, der nach dem Sieg der Athener bei der Schlacht gegen die Perser im Jahr 490 v. Chr. vom Schlachtfeld in Marathon bis nach Athen gelaufen sein soll, brach nach Verkündung der Siegesbotschaft erschöpft zusammen und starb. Für die Wissenschaft ist der Tod beim Laufen trotz zunehmend intensiverer Forschung ein bislang noch nicht vollständig erklärtes Phänomen. Bislang gibt es wenig statistisches Material über Zahl und Art der Unglücksfälle und wenig fundierte medizinische Erkenntnisse. „Die wenigsten Todesfälle werden obduziert. Dazu kommt, dass neue Ursachen solcher Zwischenfälle, meist ,elektrische’ Störungen des Herzens, nur durch aufwendige molekularbiologische oder genetische Untersuchungen festgestellt werden können“, sagt Prof. Dr. Herbert Löllgen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP) gegenüber TTMS.

In den USA haben Forscher bereits vor einigen Jahren versucht, anhand gesammelter Daten gefährdete Teilnehmer vor einem Laufevent zu identifizieren. In einem Zeitraum von fünf Jahren betrachteten sie die Finisher-Zahlen und die Anzahl von Todesfällen von 62 Laufveranstaltungen über 10 Kilometer bis zum Halbmarathon. Sie verglichen die unterschiedlichen Todesfallrisiken mit den Risiken bei Marathonläufen. Erkenntnis der aufwendigen Studie: Die Gefahr, beim Marathon zu sterben, ist signifikant höher als bei kürzeren Distanzen.

Todesfälle bei deutschen Straßenläufen und die Tragödie des amerikanischen Marathonläufers Ryan Shay bei den US-Olympia-Trials im vergangenen Jahr haben das Bewusstsein für das Phänomen des plötzlichen Läufertodes geschärft und Fragen über die Notwendigkeit ärztlicher Vorsorgeuntersuchungen neu entfacht. Herbert Löllgen und weitere führende deutsche Sportmediziner diskutierten im Sommer 2007 bei einer Experten-Konferenz Möglichkeiten, wie man Freizeitläufer auf potenzielle Risiken beim Laufen aufmerksam machen kann. Nach Sichtung internationaler Daten und Studien verabschiedeten die Konferenzteilnehmer eine Empfehlung an Laufveranstalter und Läufer: Ab 2008 soll bei Online-Anmeldungen mit Hilfe eines international anerkannten Fragebogens eine qualifizierte Abschätzung von Gesundheitsrisiken durchgeführt und erreicht werden. Dieser Fragebogen soll verbindlicher Teil der Anmeldung für ein Laufevent sein. „Eine sorgfältige Befragung gehört unbedingt dazu“, befindet Löllgen. „Allerdings“, so schränkt er ein, „wird es eine 100-prozentige Sicherheit nicht geben.“

Der Veranstalter des Berlin-Marathons als eines der weltweit größten Laufevents macht die Eigen-Visite ab 2008 zur Teilnahmebedingung: Erst wenn Läufer den Fragebogen ausgefüllt haben, können sie sich zum Marathon oder anderen Läufen anmelden. Je nach Ergebnis der Befragung wird zudem eine ärztliche Konsultation empfohlen. „Vorsorgeuntersuchungen können einen Trainingsmangel nachweisen und potenziell bedrohliche Erkrankungen aufzeigen“, so Löllgens Einschätzung.

Die Bedeutung medizinischer Checks wächst mit dem Laufboom. Der Marathon hat sich längst zu einem Massenereignis entwickelt. Die Veranstalter konkurrieren nicht nur um die schnellsten Läufer, sondern auch um die größten Teilnehmerfelder. Bei den großen Städtemarathon-Events sind es zehntausende Starter, die sich vornehmen, 42 Kilometer am Stück zu laufen. In einer Welt der Extreme gilt der Marathon scheinbar als Herausforderung, die – im Zweifel irgendwie – beherrschbar scheint. Früher galt der Marathonlauf als ambitionierter Sport, heute ist es ein Großereignis, eine Party, auf der man mindestens einmal dabei gewesen sein muss. Wilfried Kindermann, Professor am Institut für Sport- und Präventivmedizin der Universität Saarland, hält das Risiko, beim Marathon zu sterben, dann für besonders hoch, wenn drei Faktoren zusammen kommen: unzureichendes Training, falscher Ehrgeiz und mangelnder Gesundheitszustand. Aber auch bei guter Leistungsfähigkeit kann eine Herz-Kreislauferkrankung zum plötzlichen Herztod führen. Daher hält auch Kindermann für jeden Marathonläufer eine qualifizierte ärztliche Untersuchung für notwendig.(1)

Italien und Frankreich haben in punkto Vorsorge bereits großen Vorsprung: Hier sind ärztliche Untersuchungen für Läufer gesetzliche Pflicht. In Italien hat sich aus dieser Präventionsmaßnahme – ein Screening und ein Ruhe-EKG – eine interessante Statistik ergeben: Starb vor 20 Jahren bei Sportveranstaltungen einer von 100.000 Teilnehmern pro Jahr liegt die Quote heute nur noch bei 0,2 je 100.000. Eine Langzeitstudie des italienischen Wissenschaftlers Professor Domenico Corrado, die 2006 vorgestellt wurde, zeigt, dass der plötzliche Tod beim Sport durch Vorsorgeuntersuchungen gesenkt werden kann. In Deutschland hat die Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention im vergangenen Jahr eine Leitlinie für sportärztliche Vorsorgeuntersuchungen im Sinne einer Gesundheitsuntersuchung erarbeitet. Nach deren Vorgaben sollen latente oder bereits vorhandene Krankheiten, die eine Gefährdung darstellen können, erkannt werden. „Die Vorsorgeuntersuchung soll gesundheitliche Risiken mindern oder vermeiden helfen und eine optimale Ausübung von Sport und körperlicher Aktivität für jeden Sporttreibenden ermöglichen“, heißt es in der Leitlinie.(2) Kardiovaskuläre Risikofaktoren sollen dabei durch einen Anamnesebogen teilweise erfasst werden. Eine weitere Risikoabschätzung ist über Risiko-Score-Bögen, Ruhe-EKG und Belastungsuntersuchungen möglich.

Zwar tun sich die Experten bislang schwer, letztlich genaue Ursachen des plötzlichen Läufertodes zu definieren, über die Risiken sind sie sich indes einig. „Vorzeitige Todesfälle in der nahen Verwandtschaft, Herzinfarkte in der Familie, bei sich selber frühere kurz dauernde Bewusstlosigkeit ohne Ursachen, mehr als ein klassischer Risikofaktor wie früheres Rauchen, erhöhtes Cholesterin oder hoher Blutdruck“, zählt Löllgen als Risikofaktoren auf. Bei Sporttreibenden besteht vor allem bei Neu- und Wiedereinsteigern sowie älteren Personen ein erhöhtes Risiko für Herz und Kreislauf. Bei Personen mit nicht erkannten Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems ist das Risiko für einen kardialen Zwischenfall bei intensiver sportlicher Betätigung erhöht. Dies gilt insbesondere zu Beginn eines intensiven körperlichen Trainings, weshalb immer zu fachlicher Anleitung und einem verträglichem Maß geraten wird. Die Risikofaktoren nehmen im Alter zu. Ab einem Alter von 35 bis 40 Jahren muss einer möglichen Verkalkung der Herzkranzgefäße mehr Beachtung gewidmet werden als bei jüngeren Sportlern, die eher durch angeborene Erkrankungen gefährdet sind. Daher appellieren Sportmediziner an die Eigenverantwortlichkeit der Sportler, Beschwerden wie Brustschmerz, Atemnot und Schwindel oder sogar Ohnmacht während einer Belastung nicht zu ignorieren und verdächtigen Symptomen nachzugehen.

Doch es gibt keinen Grund zur Panik: Sport ist nicht Mord, wie der Volksmund mitunter suggeriert. Todesfälle beim Laufen, so tragisch jeder einzelne ist, sind selten. Medizinische Fachgesellschaften empfehlen ausdrücklich regelmäßige körperliche Aktivität als wichtigen Beitrag zur Prävention von Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, von Stoffwechselproblemen, orthopädischen Erkrankungen, Tumorleiden oder Depressionen. Grundsätzlich gilt nach wie vor: Laufen ist gesund!

Quellenangaben
(1) Kindermann W: Wer Marathon läuft, sollte rundum gesund sein, was eine qualifizierte ärztliche Untersuchung erfordert. German Road Races,
Juli 2007.

(2) Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP):
S1 – Leitlinie Vorsorgeuntersuchung im Sport.
www.dgsp.de/_downloads/allgemein/S1_Leitlinie.pdf , 2007.

Aktualisiert am 15. Dezember 2016