Nach dem Boston-Marathon 1994: Uta nimmt Marathon- und Bahnrekorde ins Visier

Von Michael Coleman
© Rhein-Ruhr-Foto: Gustav E. Schröder
© Rhein-Ruhr-Foto: Gustav E. Schröder

Die Kusshändchen, die Uta Pippig den Zuschauern zuwirft, wenn sie in Berlin, New York oder Boston ins Ziel läuft, verbergen ihre eiserne, teutonische Entschlossenheit. Das Strahlen und die gute Absicht, die die sympathische 28-jährige Deutsche ausstrahlt, täuschen über ihre innere Überzeugung hinweg. Uta will bald beweisen, dass sie eine der besten Langstreckenläuferin der Welt ist.

Die Berlinerin hat ihr Medizinstudium für drei Jahre unterbrochen, ist in die Höhenlage nach Boulder (Colorado) gezogen und hat bereits den Countdown begonnen. Dass sie sich absolut dem Laufsport verschrieben hat, brachte bereits einen ersten Erfolg in Boston am 18. April 1994: eine Marathonzeit von 2:21:45 Stunden ist die drittschnellste aller Zeiten und wurde bisher lediglich von Ingrid Kristiansen (2:21:06) und Joan Benoit-Samuelson (2:21:21/jeweils 1985) unterboten.

„Boston war erst der Anfang”, sagt Utas Freund und Trainer Dieter Hogen. „Uta wird sich nun auch auf die Bahn konzentrieren.” Vor zwei Jahren hatten einige Deutsche aus der Leichtathletikszene mit Unverständnis reagiert, als Uta angekündigt hatte, Rekorde brechen zu wollen. Für sie war das alles nur heiße Luft eines ,Ossis’, der angesichts der neu gewonnenen politischen Freiheit übermütig geworden war. Aber ihre Siege in New York im vergangenen November (2:26:24) und nun in Boston haben die Zweifler ruhig gestellt.

Doch der Wendepunkt kam für die photogene Deutsche nicht vor zwei Jahren, auch nicht in Boston, sondern 1989, als Ost-Europa begonnen hatte, auseinander zu fallen. Es war das Jahr, in dem Uta zuvor erlaubt worden war, außerhalb der DDR, beim Marathon-Weltcup in Mailand, zu starten. Im Frühling war sie damals Dritte geworden in 2:35:17 Stunden. Und noch im Herbst 1989 war sie gezwungen, sich den Berlin-Marathon im Osten hinter der Mauer im Fernsehen anzusehen (was streng genommen auch nicht erlaubt war), wie Alfredo Shahanga (Tansania/2:10:11) und die Finnin Päivi Tikkanen (2:28:45) Streckenrekorde aufstellten.

Sie konnte nicht ahnen, dass schon fünf Wochen später die Mauer fallen würde. Noch viel weniger hätte sie erwartet, dass sie zwölf Monate später das Frauen-Starterinnenfeld bei diesem Rennen anführen, dabei in entgegengesetzter Richtung durch das Brandenburger Tor in den Ostteil der Stadt laufen und dazu den Streckenrekord brechen (2:28:37) würde.

Für Uta und Dieter Hogen war der Fall der Berliner Mauer so etwas wie ein Startschuss für eine neue Karriere. Als Mitglied des ASK Potsdam waren beide nicht glücklich gewesen mit dem DDR-Sportsystem. „Es war nicht möglich, eigenständig und kreativ zu arbeiten”, sagen beide. „In einer Diktatur werden nicht nur Wettkämpfe vorgeschrieben, sondern auch persönliche Verbindungen – dies wurde notfalls mit Druck durchgesetzt.” Dieter Hogen, der 1986 begonnen hatte, Uta zu trainieren, sagt: „Wir hatten 1987 und 1988 geplant zu fliehen, aber die Angst vor möglichen Repressalien gegenüber unseren Familien hat uns gestoppt.”

Als Uta Pippig 1988 zum Tokio-Marathon fuhr und in 2:32:20 Stunden Zweite wurde hinter Aurora Cunha (2:31:26), war Dieter Hogen nicht erlaubt worden, sie zu begleiten. Uta hatte im Jahr zuvor den Leipzig-Marathon gewonnen (2:30:50), und Dieter Hogen war darauf aus, internationale Wettkämpfe für sie zu finden, damit sie ihre Schnelligkeit verbessern könnte. „Aber meine Anfragen für Startplätze bei derartigen Rennen im Ausland wurden abgelehnt”, erzählt Uta. „Wenn ich dann einmal herauskam, war ich unter Beobachtung. Ich durfte keine Kontakte schließen, ich fühlte mich nicht wohl.”

Die politischen Veränderungen in Ost-Europa kamen zum richtigen Zeitpunkt als Rettung. Die beiden gingen sofort aus der DDR nach Stuttgart, wo Uta sich den Stuttgarter Kickers anschloss. Sie startete fortan für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV).

Aber es dauerte nicht lange, bis sie das Heimweh zurück nach Berlin trieb. In ihrer Heimatstadt schloss sie sich dem Laufsport-orientierten SC Charlottenburg (SCC Berlin) an. Drei Tage vor der deutschen Wiedervereinigung schrieb der SCC Berlin Sportgeschichte, indem er den Berlin-Marathon auf einer neuen Strecke durch beide Teile Berlins führte.

Uta war plötzlich in einer neuen Rolle – als eine Botschafterin der Vereinigung. „Mein Sieg in Berlin an diesem Tag war wahrscheinlich emotional der Höhepunkt meiner Karriere”, erzählt sie. „Als ich durch das Brandenburger Tor lief, was für uns vorher nicht in den verrücktesten Träumen möglich schien, bekam ich eine Gänsehaut.” Es war wirklich ein historischer Tag.

Marathon-Organisatoren aus aller Welt waren gekommen, um das Rennen zu sehen, bei dem 25.000 Läufer durch Berlins breite Straßen rannten. Angeführt wurden sie von Steve Moneghetti, der mit 2:08:16 Stunden einen Kursrekord aufstellte, der exakt identisch war mit dem vom London-Marathon. Im Frühjahr 1990 war Uta Pippig zum ersten Mal in die USA gereist und war beim Boston-Marathon gestartet. Dort wurde sie Zweite in 2:28:03 Stunden hinter Rosa Mota (2:25:24). Die amerikanische Stadt sollte zu einem Mittelpunkt ihrer Marathonkarriere werden. Die junge Deutsche wurde 1991 und 1992 jeweils Dritte in Boston, bevor sie dann 1994 in außergewöhnlichen 2:21:45 Stunden gewann.

Doch schon 1991 hatte sich die Doppelbelastung mit dem Training für die Straßen- und Bahnläufe sowie dem Medizinstudium als schwierig erwiesen. Zunächst hatte die Abwechslung der Disziplinen attraktiv gewirkt für Uta und ihren Trainer. Aber bald lief ihnen die Zeit davon, beziehungsweise sie fehlte ihnen an allen Ecken und Enden. „Kurz vor den Olympischen Spielen 1992 hatte ich zwei wichtige Prüfungen an der Uni”, erinnert sich Uta. „Damals wollte ich das so. Aber zwei derartige Prüfungen so kurz vor Olympia, das war wirklich eine Dummheit.”

Uta studierte an der Freien Universität Berlin. „Oft habe ich die Nacht durchgearbeitet bis sechs Uhr früh, habe zwei Stunden geschlafen und bin dann zu den Seminaren gegangen. Die anderen lachten schon, weil ich so müde aussah.”

Es war so gesehen keine Überraschung, dass es bei den Weltmeisterschaften von Tokio 1991 über 10.000 m nur zu einem sechsten Platz reichte. Eine Hüftverletzung, die sie bereits beim Boston-Marathon im April, wo sie Dritte in 2:26:52 Stunden geworden war, behindert hatte, war noch nicht ausgeheilt. Es war ein schweres Jahr, das gut begonnen hatte: mit einem Hallen-Weltrekord über 5000 m in 15:13,72 Minuten. Dennoch setzte Uta ihr Studium fort.

Beim Boston-Marathon 1992 fühlte sie sich wieder fit und griff Wanda Panfil (Polen) an, die ein Jahr zuvor in 2:24:18 Stunden gewonnen hatte. Uta lief an der Spitze mit Panfil, und beide liefen aufgrund des Zweikampfes Zwischenzeiten, die auf ein Ergebnis von unter 2:20 Stunden hinausliefen. Doch beide bezahlten für dieses Tempo. Olga Markowa (Russland), die ihr eigenes Tempo gelaufen war, überholte sie beide und gewann in 2:23:43. Uta wurde Dritte in 2:27:12.

Kurz vor dem nächsten Highlight der Karriere, den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona, wo sie über 10.000 m lief, erkältete sich Uta. Sie wurde nur Siebente. Es war kein gutes Jahr, denn eine Fußverletzung ließ sie beim Berlin-Marathon später langsamer werden. Sie gewann das Rennen zwar, doch das Ziel, den deutschen Rekord von Katrin Dörre-Heinig (2:25:24) zu brechen, verfehlte sie mit 2:30:22 Stunden deutlich. Während sie immer noch versuchte, der Doppelbelastung mit Training und Studium stand zu halten, zwang sie dann im Winter 1993 eine Krankheit dazu, ihr Training zu drosseln, ihr Medizinstudium zu unterbrechen.

Mit Dieter Hogen zog sie nach Boulder in ihr Trainingsdomizil. New York war das Hauptziel im Herbst, zumal sie bei den Weltmeisterschaften in Stuttgart im August über 10.000 m nicht über Rang neun hinausgekommen war – Uta hatte offenbar zuvor zu viel Kraft im Training gelassen. Doch dann kam der große Sieg in ,Big Apple’ im November mit einer Bestzeit von 2:26:23 Stunden.

„Ich hoffe, dass ich den Weltrekord brechen kann”, sagte Uta. “Vorzugsweise würde ich das in Berlin versuchen, meiner Heimatstadt. Ich konzentriere mich jetzt voll auf das Laufen und schiebe alles andere, auch Babypläne, in den Hintergrund.”

Vier entscheidende Dinge nennt Dieter Hogen, um Erfolg zu haben: eine sorgfältig auf den Sport abgestimmte Ernährung, ein ausgeglichenes Leben, das zum Hochleistungssport passt, ein Höhentrainingslager, in dem es wenig Klimaunterschied gibt, und die Schaffung eines zu allem passenden Umfeldes. Das 2.500 Meter hoch gelegene Boulder erfüllt mehrere Voraussetzungen. „Es ist dort ein Leben wie in einer großen Familie, jeder hilft dem anderen”, sagt Uta.

Zusammen mit ihrem Trainer hat Uta dort sogar ein Haus gekauft, um nicht andauernde Mieten zahlen zu müssen, wenn sie drei- bis viermal im Jahr für längere, intensive Trainingsphasen nach Colorado reisen. Uta ist inzwischen eng verbunden mit den Vereinigten Staaten von Amerika, nicht nur aufgrund ihrer außergewöhnlichen Leistungen bei den Straßenrennen, in denen sie nun zwei Jahre lang ungeschlagen ist. Hinzu kommt ihre charmante Persönlichkeit.

Ihr Englisch hat sie rapide verbessert – selten sucht sie nach einem Wort -, und dadurch hat sie auch gute Kontakte zur Presse. Nachdem sie das Bolder-Boulder-Rennen gewonnen hatte, schrieb eine lokale Zeitung: „Mit ihrem Humor, ihrem deutschen Akzent und ihrer aufgeschlossenen Art, hat sie viele Freunde gewonnen. Zum ersten Mal hörte ich eine Deutsche sagen: ,Mama mia’. Wow!“