Boston-Marathon 2015: Beginn einer neuen Ära für Team Hoyt
Der Läufer, der einen mit zwei 30 kg schweren Sandsäcken beladenen Rollstuhl vor sich her schiebt, gehört in diesem Jahr zum gewohnten Bild auf den schneebedeckten Straßen von Methuen im Bundesstaat Massachusetts, USA.
Dahinter verbirgt sich Bryan Lyons, ein 45 Jahre alter Zahnarzt, der sich darauf vorbereitet, in die Fußstapfen von Dick Hoyt zu treten, der einen Hälfte des weltweit beliebten Vater-und-Sohn-Duos, Team Hoyt.
Die unförmigen Sandsäcke wiegen etwa so viel wie Rick Hoyt – die andere Hälfte des Teams – dessen Rollstuhl Bryan beim diesjährigen Marathon schieben wird.
Im vergangenen Jahr absolvierte Dick (74) seinen 32. Boston-Marathon, bei dem er in gewohnter Weise seinen Sohn Rick – Rick kam mit Zerebralparese auf die Welt – über den 42,195 km Kurs von Hopkinton schob. Die ohrenbetäubenden Jubelrufe und die Freudentränen, die den Zieleinlauf der beiden begleiteten, sind Ausdruck ihrer ikonengleichen Stellung beim ältesten, jährlich stattfindenden Marathon.
Fortschreitendes Alter und Rückenprobleme veranlassten Dick schließlich, das Ruder in Boston an einen anderen zu übergeben. Rick (53) hingegen war noch nicht bereit, denn er würde das Rennen und die Atmosphäre zu sehr vermissen.
Bryan Lyons, seit 2009 Charity-Läufer für die Hoyt Foundation, wird bei der 119. Auflage des Boston-Marathons am 20. April Rick im Rollstuhl über die 42,195 km schieben. Er weiß, wie sehr die Bostoner Dick und Rick Hoyt lieben.
Bryan war einer der Läufer, die im vergangenen Jahr auf ihre persönlichen Bestzeiten verzichteten, um zusammen mit dem Vater-Sohn-Gespann die große Begeisterung und Zuneigung des Publikums entlang der Strecke zu erleben. Und viel erinnert ihn daran, in welch große Fußstapfen er tritt – nicht zuletzt eine lebensgroße Bronzestatur in Hopkinton am Start des Marathons!
„Ich werde Dick nicht ersetzen – keiner könnte das“, sagt Bryan gegenüber Take The Magic Step. „Ich bringe lediglich ein frischeres Paar Beine mit – aber mein Herz und meine Inspiration sitzt vor mir im Rollstuhl.“
Kurz nach Bryans Team-Beitritt, entwickelte sich eine Freundschaft zwischen ihm und Rick. „Als ich Rick zum ersten Mal traf, wusste ich nicht, wie ich mit ihm reden sollte“, erinnert er sich. „Ich bat Dick, Rick Hallo zu sagen. Dick antwortete ‚Sag es ihm selbst.‘ Das habe ich getan, so entwickelte sich unsere Freundschaft.”
Bryan, der während seines Zahnmedizinstudiums den Laufsport entdeckte, hatte selbst schon schwere Stunden erlebt. 2001 fuhr ein Betrunkener in Bryans Wagen, was daraus folgte, beschreibt Bryan als „dunkle Zeit“. Aufgrund äußerst schmerzhafter Rückenverletzungen dauerte es fünf lange Jahre, bis er gerade einmal 8 km schmerzfrei rennen konnte.
„Durch Team Hoyt habe ich meine Liebe und Leidenschaft für den Laufsport wiedererlangt. So gesehen, haben Dick und Rick mehr für mich getan, als ich jemals für die Beiden tun kann, trotzdem werde ich es natürlich versuchen“, erklärt er.
„Es war eine unglaubliche Ehre als man mich fragte, Dicks Rolle zu übernehmen. Die Liebe und Beharrlichkeit, die er während all der Jahre zum Ausdruck brachte, erfüllte mich mit Ehrfurcht und inspirierte mich. Dass ich jetzt ein Teil davon bin, ist einfach unbeschreiblich.“
Was ist es für ein Gefühl, in die Fußstapfen einer Legende zu treten? „Es ist schon ein wenig überwältigend“, gibt er zu. „Ich versuche mir zu sagen, dass ich nur ein Freund bin, der mit einem Freund ein Rennen bestreitet. Wenn ich es so betrachte, ist es nicht ganz so überwältigend.“
Bryan und Rick – das neue Team Hoyt – haben bereits 5-km- und 10-km-Rennen zusammen absolviert sowie einen Halbmarathon unter der Sonne San Diegos, den sie in 2 Stunden und 10 Minuten schafften. Ein starkes Finish bei ihrem bislang härtesten Test – dem Eastern States 20 Miler am 29. März – schenkte ihnen zusätzliches Selbstvertrauen. Die Erfahrungen des strengen Winters, der Neuengland in diesem Jahr heimgesucht hatte, ließen Bryan Dicks Rat beherzigen. So simulierte er Ricks Körpergewicht mithilfe von Sandsäcken im Rollstuhl, um diese 55 kg auf extrem anstrengenden Trainingsläufen über 35 km zu schieben.
„Manchmal ernte ich komische Blicke“, erzählt der 1,75 m große und knapp 80 kg schwere Junggeselle lachend. „Eines Tages fragte mich eine Frau, ob das wirklich Sandsäcke seien? Als ich bejahte, sagte sie: ‚Es erscheint mir schon etwas absurd, mit einem Kinderwagen voller Sandsäcke durch die Gegend zu rennen.‘ Ich hatte nicht das Herz, ihr zu sagen, dass es sich bei dem “Kinderwagen” um einen fein abgestimmten Hightech-Renn-Rollstuhl handelt.“
Beim Boston-Marathon 2015 werden Bryan und Rick von 30 Läufern der Hoyt Foundation unterstützt – auch in diesem Jahr hat Uta die Mitglieder auf ihrem Weg zum Boston-Marathon begleitet – und Bryan kennt die Strecke gut: Als Einzelläufer liegt seine persönliche Bestzeit bei 4:14 Stunden. Rennen und dabei Ricks Rollstuhl schieben, ist eine große Herausforderung, deshalb ist er dankbar für die Strategietreffen mit Dick und die Ratschläge, die ihm der erfahrene Läufer für die Bewältigung des Bergauf-Bergab-Rennens in Bostons berühmten Hügeln mit auf den Weg geben konnte.
„Aber am wichtigsten ist es, dass Rick und ich gerade lernen, einander zu verstehen”, erklärt er. „Während des Marathons sind Ernährung und Wohlbefinden von entscheidender Bedeutung. Ich muss wissen, ob Rick hungrig oder durstig ist, ob er es bequem hat. Während des Rennens muss ich erkennen können, wann ich anhalten und nach ihm sehen muss.“
„Ich weiß, wenn er beim Überqueren der Ziellinie lächelt, dann ist alles andere egal.“
Erschienen am 10. April 2015
- Erschienen am 10. December 2014
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