Rennen mit und ohne Pudding
Denkt man an London und Laufen, so stellt man sich den Hyde Park und den Regent’s Park im Zentrum vor, die grünen Hügel von Hampstead Heath im Norden und, zur südwestlichen Seite, wo die Grafschaften von Surrey und Middlesex sich treffen, Richmond sowie Bushey Park. Die beiden letzteren werden auch heute von hochkarätigem Talent benutzt: Craig Mottram aus Australien, der 2004 Haile Gebrselassie über 5.000 m beim Meeting in Crystal Palace in London fast bezwang und die Schallmauer von 13 Minuten durchbrach, wird ab und zu dort gesehen. Südwest-London mit guter Verkehrsverbindung zum Flughafen von Heathrow ist sehr günstig für Athleten, die ihr Geschäft in der Freiluftsaison in Europa treiben.
Ost-London ist aber ein Geheimnis. Liest man die Romane von Charles Dickens, der hervorragende Porträtist des Londoner Lebens im 19. Jahrhundert, könnte man glauben, alles sei dunkel und im Schatten befinde sich Gewalt und Gefahr. Ost-London ist jedoch mehr als diese altmodischen Vorstellungen von Whitechapel und “Jack the Ripper”, es hat ein Juwel im Grünen, das Epping Forest heißt.
Die Orion Harriers haben ihr Vereinshaus am Rande dieses Waldes. Bei Epping kann man meilenweit laufen. Es gibt sogar ein Crosslaufrennen im März des Jahres, das 15 Meilen auf und ab im Wald geht. Traditionsreich, 1911 begründet, und die zirka 300 Mitglieder von Orion sind abenteuerlustig. Über viele Jahre hatte eine Minderheit es gern, nachts mit Stirnlampen im Wald zu laufen. Diese Tradition hat nachgelassen, nicht wegen Unfällen oder Razzien, sondern weil die Läufer mit zunehmenden Jahren und Gewichten zu solchen Bedingungen nicht mehr fähig sind.
Aber Abenteuerlust muss ja sein, und Handikaprennen mit einem besonderen Reiz sind das Lieblingsfach. Vor allem zu Weihnachten; es gab eines Tages einen Staffellauf zu dieser Jahreszeit, bei dem ein treues Vereinsmitglied sich angeboten hatte, nicht am Wettbewerb teilzunehmen, sondern die Rolle einer Markierung zu spielen: Er nahm Stellung auf einem Hügel, jeder Läufer beziehungsweise jede Läuferin drehte sich bei ihm um und lief zum nächsten Mannschaftsmitglied. Es muss übrigens erwähnt werden, dass der Staffellauf wegen des schlechten Wetters auf einem Golfplatz am Rande des Waldes stattfand.
Wichtiger Hinweis für diese lebendige Markierung war, dass er jede Mannschaft zählen musste, damit er wusste, wann das Rennen vorbei war. Aber der Nachmittag war lang, der Schnee fiel immer stärker, es wurde dunkel … – und er vergaß seine Aufgabe. Treu stand er da auf dem Hügel, während die Läufer schon im Vereinshaus beim Weihnachtsmahl saßen. Pute und Pudding standen auf der Speisekarte, und die erste Mannschaft im Ziel hatte eine ganze Pute gewonnen. Schließlich erkannte der Einzelgänger seinen Fehler und kehrte ins Vereinshaus zurück, wo der letzte Pudding leider schon alle war.
Seitdem hat dieser Staffellauf jedes Jahr stattgefunden, aber mit einer natürlichen statt einer menschlichen Markierung.
- Erschienen am 5. July 2005
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