Die Kraft der Friedlichen: Ein Interview mit Joe Haddad

Von Lynne Eppel

Das Schöne an Yoga ist, dass es uns nicht nur von negativen Gedanken und Gefühlen befreien und hin zu einem „normalen“ Gefühlszustand führen kann; Yoga strebt nach Höherem, es will uns auf eine Ebene des Friedens, der Freude und der Gelassenheit führen, was jedem Menschen – so die Überzeugung aller Yogis – von Geburt an zusteht. Dabei ist es vor allem wichtig, dass es uns gelingt, unseren Geist und Verstand für und nicht gegen uns arbeiten zu lassen.

Menschen, die gestresst, unglücklich, zornig oder besorgt sind, neigen dazu, in einem Zustand dauerhafter körperlicher Erregung zu leben. Dabei ist ihr sympathischer Teil des vegetativen Nervensystems („Fight-or-flight-Reaktion”) die meiste Zeit aktiviert. Langsames, gleichmäßiges Atmen kann hier helfen, den entspannenden parasympathischen Teil des vegetativen Nervensystems vermehrt einzuschalten, das uns ermöglichen kann, die in unserem Inneren ruhende Freude zu entdecken und zu erleben.

Darüber hinaus lehrt uns Yoga: Je mehr unser Denken von bestimmten Gedanken geprägt ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir mit einer ähnlichen Einstellung auch an andere Dinge herangehen. Diese Gedanken sind wie mentale Pfade in unserem Gedächtnis, die zunehmend deutlicher werden. Die moderne Wissenschaft hat dies mit neuen Erkenntnissen im Bereich der neuronalen Plastizität belegt. Wissenschaftler gehen nun davon aus, dass die Nervenbahnen, die die betroffenen Nervenzellen des Gehirns miteinander verbinden, stärker werden, je häufiger wir etwas denken oder tun (Webster’s New World Medical Dictionary).

Eine interessante, 2004 veröffentlichte Studie, veranschaulicht diese Erkenntnisse. Wissenschaftler haben die Gehirnaktivität von tibetischen Mönchen und Meditationsneulingen vor und während der Meditation untersucht. Dabei haben sie festgestellt, dass die Gehirnaktivität der Mönche aufgrund regelmäßiger Meditationsübungen während dieser Übungen erhöht war. Die Studie ist in Proceedings of the National Academy of Sciences erschienen und kann über PubMed bezogen werden. Je häufiger wir uns also emotional unter Druck setzen lassen und den alltäglichen Herausforderungen mit Angst oder Besorgnis begegnen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dies immer wieder passiert.

Bevor wir allerdings ein Verhaltensmuster ändern können, müssen wir dieses zunächst klar erkennen. Oft sind wir uns der immer wiederkehrenden Gedanken, die unserer Gesundheit und unserem Wohlbefinden im Wege stehen könnten, gar nicht wirklich bewusst. Teil der heilenden Wirkung von Yoga ist die bewusste Wahrnehmung unseres inneren Dialoges. Eine gute Gelegenheit, auf diesen Dialog zu achten, besteht beispielsweise während wir Asanas praktizieren: Wenn wir diese mit angstvollen oder selbstkritischen Gedanken ausüben, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir ähnliche Gedanken in anderen Situationen haben, und das könnte unsere Lebensfreude deutlich einschränken. Das Selbststudium, das wir auf unserer Yogamatte praktizieren, kann zu einem besseren Verständnis unserer mentalen Gewohnheiten führen und uns in die Lage versetzen, jene Gedanken loszulassen, die uns nicht gut tun.

Unser Gesprächspartner, Joe, ist gerade dabei, dies für sich auf der Yogamatte zu entdecken. Als Joe mir erzählte, dass Yoga sein ,Rettungsanker’ sei, wollte ich mehr wissen. Joes Geschichte unterscheidet sich sehr von der unseres letzten Interview-Partners, Jim Thorne, der Yoga schon seit vielen Jahren praktiziert. Joe dagegen hat erst vor relativ kurzer Zeit mit Yoga begonnen. Die Auswirkungen auf sein Leben und auf das, was er bisher erlebt hat, sind jedoch mindestens ebenso stark wie bei Jim Thorne. Joe verbrachte 14 seiner ersten 19 Lebensjahre in der Nähe von Beirut, dem Zentrum der Bombenangriffe während des libanesischen Bürgerkrieges. (Anmerkung: Aus persönlichen Gründen hat Joe darum gebeten, seinen Familiennamen in diesem Artikel zu ändern.)

Hallo Joe. Könnten Sie uns zu Beginn erzählen, was Ihnen Yoga bedeutet?

In den letzten Jahren habe ich unter mentalen und körperlichen Problemen gelitten. Während dieser Zeit ist Yoga zu meinem ,Rettungsanker’ geworden und hat mir neue Hoffnung gegeben. Während des Yoga-Unterrichts denke ich an nichts anderes als an das, was ich auf der Matte mache. Ich habe die Körper-Geist-Verbindung endlich verstanden, von der immer alle sprechen, an die ich aber bislang nie geglaubt habe.

Das klingt ziemlich eindrucksvoll. Können Sie uns etwas mehr über Ihr Leben im Libanon erzählen?

1975, als ich fünf Jahre alt war, begann der libanesische Bürgerkrieg. Als ich das Land mit 19 verließ, war der Krieg noch immer im Gange. Jedes Jahr gab es einen neuen Grund für den Krieg.

Wie war das für Sie?

Ich war noch ein Kind, so dass ich den Krieg in gewisser Weise einfach akzeptierte und er mir als ein Stück Normalität erschien. Beirut wurde zum Zentrum des Krieges, und wir lebten nur zehn Minuten davon entfernt. Ich hatte mich daran gewöhnt, glaube ich, aber im Inneren habe ich mich gefürchtet.

Wie sah das ,normale’ Leben für Sie aus?

Wenn keine Bomben fielen, spielten wir Fußball. Fußball war das Größte, vor allem während der Weltmeisterschaftsjahre. Wir aßen, tranken, gingen zur Schule – machten also die ganz gewöhnlichen Dinge – bis die Kämpfe losgingen, dann versteckten wir uns. Alles – das Spielen im Freien, Sport treiben oder zur Schule gehen – hing davon ab, ob es sicher war, hinauszugehen.

Sie verließen den Libanon mit 19? Gingen Sie zusammen mit Ihrer Familie?

Seit ich zwölf war, hatte ich davon geträumt, nach Amerika zu gehen. Als ich jedoch ging, ließ ich meine Familie zurück. Die Menschen versuchten, auf Fischerbooten nach Zypern oder Griechenland zu fliehen. In jener Nacht gingen einige von uns an Bord eines Schiffes ohne Lichter und versuchten zu entkommen, ohne entdeckt zu werden. Die Luftraumüberwachung erspähte uns jedoch und begann, uns zu bombardieren. Diese Situation – auf offener See eine hilflose Zielscheibe zu sein – war die bisher schlimmste Erfahrung in meinem Leben.

Wie sind Sie in die Vereinigten Staaten gelangt?

Da ich Französisch sprach, durfte ich nach Montreal auswandern. Ich besuchte die Technische Hochschule und wurde Teil einer wundervollen Gemeinschaft. Es war schwer, sie zu verlassen, aber es war die Zeit des High-Tech-Booms. 1997 kontaktierte mich ein Headhunter von USWest in Denver, und ich nahm das Angebot an. Denver machte mir Angst. Ich kannte niemanden, und zu der damaligen Zeit war dort nicht viel los. Außerdem wurde ich fett! Ich aß jeden Tag bei Taco Bell und nahm sieben Kilo zu. Als ich die Zahl auf der Waage sah, habe ich abends nur noch Salat gegessen und ging jeden Tag ins Fitnessstudio.

Wann haben Sie das erste Mal Yoga ausprobiert?

Das erste Mal habe ich Yoga auf meiner Hochzeitsreise in Hawaii im Jahr 2000 gemacht. Ich ging zunächst vor allem deshalb zum Yoga-Unterricht, um die Familie meiner Frau glücklich zu machen. Doch dann gefiel es mir recht gut, und ich ging bis zum Ende der Reise jeden Tag dorthin. Das war ein großes Jahr für mich: Nicht nur, dass ich geheiratet hatte, ich nahm auch noch an meinem ersten Bolder Boulder 10-km-Lauf teil.

Sie laufen auch? Wann sind Sie ein Läufer geworden?

Meine Frau hat mich inspiriert. Sie ist eine tolle Läuferin. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich mich in sie verliebt habe. Ich bin immer zu ihr gegangen, und draußen hat es geschneit. Ich wäre gerne gemütlich im warmen Haus geblieben, aber sie wollte sich immer in ihre Laufklamotten werfen und dem Wetter trotzen. Schließlich hat sie mich überzeugt, mit ihr zu laufen. Wir haben sogar im Libanon trainiert. Ich erinnere mich noch, wie ich meinem Bruder stolz berichtete, dass wir gerade zwölf Kilometer gelaufen waren. Er guckte mich nur entsetzt an und fragte mich, was mit meinem Auto passiert sei.

Das klingt, als hätten Sie zu dieser Zeit ein recht zufriedenes Leben geführt. Dennoch sagten Sie, dass sich die Dinge geändert hätten. Was ist passiert?

Mich traf, wie so viele andere, der Zusammenbruch des Aktienmarktes 2001. Darauf folgten in kurzen Abständen die Anschläge des 11. September und der Herzinfarkt meines Vaters, der dann auch noch von Nierenversagen und starken Depressionen begleitet war. Meine Frau wurde 2004 schwanger, und mein Job war gefährdet. Ich fühlte mich total frustriert, weil ich die Kontrolle über so viele Dinge verloren hatte und auch meinem Vater nicht helfen konnte. Ich war die ganze Zeit nervös und ängstlich. Als das Baby geboren war, hörte ich mit dem Laufen auf, und ich weiß, dass das nicht gerade hilfreich gegen meine Angstzustände war. 2006 begann mein Körper, sich zu wehren: Ich bekam Probleme mit Muskelverspannungen, die meine Beweglichkeit einschränkten, litt an Muskelzittern und war kurzatmig.

Was haben Sie dagegen unternommen?

Ich wünschte, ich hätte damals bereits an Yoga gedacht. Ich ließ mich von zahlreichen Ärzten untersuchen. Einige tippten auf MS (Multiple Sklerose), andere auf Parkinson. Ich ließ Kernspintomographien von meinem Gehirn, Nacken und Rücken machen – alles ohne Befund. Bis September 2006 war ich zweimal wegen Panikattacken in der Notaufnahme – nie konnte etwas festgestellt werden. Im Oktober ging ich in die Mayo Clinic zu einer umfassenden neurologischen Untersuchung. Die Ärzte sagten, ich hätte Glück: Die Ergebnisse sämtlicher Tests belegten, dass meine körperlichen Symptome keine neurologische Grundlage hätten, sondern das Resultat von Stress und Angstzuständen seien.

Wie haben Sie zum Yoga zurückgefunden?

Meine Frau hat es vorgeschlagen und als sie es sagte, wurde mir klar: Ja, das sollte ich tun!

Wie fühlt sich Yoga für Sie an?

Wenn ich Yoga mache, verschwinden meine Angstzustände fast vollständig, und für den Rest des Abends und der Nacht fühle ich mich friedlich und ruhig. Am Morgen kommen die Symptome dann manchmal wieder, deshalb habe ich mir vorgenommen, mir einen Yogakurs zu suchen, der morgens stattfindet. Ich will herausfinden, ob mir Yoga durch den Tag hilft.

Was meinen Sie damit, dass Ihre „Symptome verschwinden”?

Während des Kurses gelingt es mir, mich zu konzentrieren, und dann denke ich an nichts anderes mehr. Ich kann meinen Körper einschätzen. Damit meine ich, dass meine früheren Ängste vor einer neurologischen Krankheit wie MS oder Parkinson keine Gültigkeit mehr haben, denn ich kann meinen Körper dazu bewegen, das zu tun, was ich möchte, auch wenn ich mich dabei wegen meiner Muskelverspannungen sehr langsam bewegen muss. Ich erkenne, dass meine Schwäche und meine Ängste im Kopf entstehen. Endlich verstehe ich, was die Leute meinen, wenn sie von der Verbindung und gegenseitigen Beeinflussung von Körper und Geist sprechen. Man kann Probleme der einen Seite nicht ignorieren, ohne dass die andere Seite dabei leidet.

Joe, das ist eine große Erkenntnis in einer kurzen Zeit.

Ja, das stimmt. Yoga schaltet meinen Kopf ab. Es erlaubt mir eine Zeit des Friedens und weckt mein friedliches Ich. Meine Therapeuten haben mir zudem einige Übungen und Meditations-Kassetten für zu Hause gegeben, aber ich benutze sie nicht wirklich häufig. Es fällt mir schwerer zu Hause. Mir gefällt es, im Kurs mit den immer gleichen freundlichen Gesichtern und der Unterstützung der Gruppe zu sein. Über niemanden wird geurteilt, es ist wirklich eine angenehme Atmosphäre.

Nachdem Sie nun Probleme mit Kurzatmigkeit haben, wie wirkt sich bei Ihnen die Konzentration auf die Atmung beim Yoga aus?

Ich beginne zu lernen, meinen Atem bewusst einzusetzen, aber es fällt mir noch immer schwer. Manchmal habe ich das Gefühl, als würde ich nicht genug Luft bekommen, aber immerhin weiß ich nun, dass das nur stressbedingt ist. Ich mache alle Übungen in meinem eigenen Tempo. Neulich fand ich heraus, dass mir der Übergang von der Hundestellung mit dem Kopf nach oben in die Hundestellung mit dem Kopf nach unten leichter fällt, wenn ich tief ein- und ausatme. Es macht die ganze Pose einfacher!

Haben Sie eine Lieblingspose?

Ich mag die Taubenstellung, weil ich die gut kann! Mir gefällt auch die Zeit am Beginn einer Klasse, wenn wir einen Vorsatz fassen. Ich nehme mir immer das Gleiche vor: Meinen Körper wertzuschätzen – du gibst mir so viel, ich werde dir etwas zurückgeben und auf dich aufpassen

Haben Sie einen Rat für Anfänger?

Üben Sie mindestens dreimal pro Woche. Ich kann Yoga wirklich jedem nur empfehlen. Vor allem, wenn Sie körperliche Beschwerden haben, die mit Angst oder innerer Unruhe zu tun haben oder Sie sich einfach nur ,kaputt’ fühlen. Wenn es Ihnen schlecht geht, können sich Symptome auf so vielen Ebenen zeigen. Yoga ist eine präventive Medizin. Auch wenn Ihr Leben im Moment gut läuft, bereitet Yoga Sie auf Herausforderungen vor, macht Sie stark. Es ist wie die Prävention vor Krieg in Friedenszeiten.

Merken Sie, dass Sie beim Yoga Fortschritte machen?

Ja. In meiner ersten Klasse konnte ich mich kaum bewegen! Die Körperstellungen werden jetzt kräftiger und mir immer vertrauter. Und das Beste: Ich entdecke eine Verbindung zu mir selbst – ich beginne, mich wieder als Ganzes zu fühlen.

Welche Rolle wird Yoga in Ihrer Zukunft spielen?

Es wird ein sehr wichtiger Teil meiner Zukunft sein. Gestern bin ich einem Health Club beigetreten, so dass ich zu den Kursen gehen kann, wann immer ich will. Außerdem habe ich vor einigen Tagen begonnen, wieder mit meiner Frau zu laufen …

Vielen Dank, Joe!

ANMERKUNG: Das US-Verteidigungsministerium zeigt mittlerweile Bereitschaft, das Potenzial einer speziellen Yogaform – Yoga Nidra – als Therapieform für Militärpersonal mit einer post-traumatischen Belastungsstörung (PTBS) anzuerkennen. Die Ergebnisse eines kleinen klinischen Versuchs mit 9 Probanden am Walter Reed Army Medical Center im letzten Herbst waren so ermutigend, dass für den Herbst 2008 eine weitere Testreihe mit 100 Probanden geplant ist. Mittlerweile hat das Medical Center Yoga Nidra in seinen Behandlungsplan integriert und therapiert damit Soldaten, die aus Afghanistan oder dem Irak zurückkehren. Yoga Nidra legt den Fokus auf Selbstwahrnehmung. Für weitere Informationen, lesen Sie unter folgendem Link das Interview mit dem Leiter der klinischen Studie.