The Fit Life: Weiches Licht
In der Zeit meines Zusammenlebens mit einer professionellen Fotografin habe ich einiges über ihren Beruf gelernt. Und dabei gleichzeitig so viele interessante Parallelen zu meiner Berufung entdeckt – dem Laufen: Was Fotografie und Laufen verbindet, ist so etwas wie die Suche seiner Protagonisten nach dem Besonderen. Fast immer nämlich ist das gängige Prinzip nicht das Beste. Eine Kostprobe?!
Anders, als die meisten denken, ist es in der Regel besser, das Objekt der Aufnahme nicht in den Mittelpunkt zu setzen. Oder der Mythos mit den Köpfen: Sie anzuschneiden ist gar nicht so schlecht; oftmals sogar das Beste. Und – was viele für die besten Fotobedingungen halten – helles, sonniges Wetter kann sich unter Umständen als vollkommen langweilig entpuppen.
Letztere dieser goldenen Fotografen-Regeln war für mich leicht nachvollziehbar, da ich das gleiche schon lange über das Laufen gedacht habe. Natürlich trägt ein Lauf immer zu unserem Wohlbefinden in den Stunden danach bei. Viele solcher Läufe entsprechen jedoch eher dem, was Kramer, eine der Hauptfiguren in der amerikanischen Fernseh-Show „Seinfeld“, einst über Dienstage sagte: Sie sind gefühllos, soll heißen, sie bringen keine einprägsamen Erlebnisse. Ein Lauf um 11 Uhr vormittags ist dabei kaum von einem Lauf kurz nach zwölf Uhr mittags oder um halb zwei zu unterscheiden. Da die Bedingungen sich kaum verändern, scheint die Zeit stehen zu bleiben und wir fragen uns: War ich 15, 45 oder gar 75 Minuten unterwegs? Wenn ich einige Wochen später versuche, mich an diese Läufe zu erinnern, sind sie wie Fotos, die zur Mittagszeit aufgenommen wurden: verwischt, ohne Tiefgang und aus ästhetischer Sicht selten unvergesslich.
Zu Sonnenauf- oder -untergang jedoch sind Läufe durchdrungen von einem Phänomen, das Fotografen ,weiches Licht’ nennen: Schatten scheinen sich zu verlängern, Farben verändern sich mit jeder Minute – die Natur glüht. In nur einer halben Stunde kann ich ein und denselben Himmelsabschnitt völlig anders entdecken: Seine Farben flirten mit fast allen Bereichen des für uns sichtbaren Spektrums, und ich kann bestaunen, wie er sich von lila über rosa und orange zu rot verändert. Dann geht die Sonne auf – und blinzelt in Form eines unwahrscheinlich großen Halbkreises über den Horizont. Ein eindrucksvolles Schauspiel, das nur noch von diesen ganz besonderen Abenden im Herbst übertroffen wird: Dann steigt der Vollmond genauso groß und leuchtend in den Himmel, wie die untergehende Sonne auf der anderen Seite des Himmels versinkt. Licht trifft horizontal auf Dinge und lässt diese beinahe unheimlich erscheinen, teils erleuchtet und teils versteckt von der herein brechenden Dunkelheit. Ich bin dabei sowohl Teilnehmer als auch – obwohl ich mich fortbewege – passiver Beobachter der Schönheit der Natur: Ein Fotograf im Geiste.
Vom Optischen einmal abgesehen habe ich diese Läufe am Morgen oder am Abend immer am meisten genossen. Am frühen Morgen stellt sich leicht ein ,Die Welt ist mein’-Gefühl ein. (Das soll nicht heißen, dass ich etwas gegen andere Läufer hätte. Man winkt oder nickt sich zu und spürt ein Gefühl der Kameradschaft, weil wir beide unser Versprechen gehalten haben, das wir uns gegenüber am Abend zuvor gemacht haben.) Gelegentlich sieht man ein Auto, jemanden, der seinen Hund ausführt oder die Zeitung ausliefert, und das bestärkt nur noch das Gefühl der Einsamkeit und Stille. Ein Suchender – wie ein Fotograf auf der Jagd nach dem perfekten Motiv mit ,weichem Licht’. Nichts kann mich ablenken, und so kann ich genau spüren, wie meine Muskeln und mein Geist langsam erwachen und sich dem anbrechenden Tag gegenüber öffnen. Wenn ich meine alten Trainingstagebücher durchblättere, kann ich immer genau sagen, wann ich mich in einer mental schwierigen Phase befand. „Muss wieder mehr am Morgen laufen“, heißt es dort immer wieder – eine doch eigentlich überflüssige Erinnerung daran, welch positive Effekte es immer wieder hat, die schläfrige Trägheit zu überwinden und in einen wundervollen Morgen hinein zu laufen.
In gleichem Maße habe ich seit jeher Läufe am späten Nachmittag und frühen Abend geliebt – gerade wenn ich bereits morgens auf der Piste war. Das gibt dem Tag einen völlig anderen Rhythmus und verleiht dem, was zwischen den Läufen passiert ist, mehr Bedeutung: Das, was ich esse, wird dann wichtiger. Und meine Arbeit füllt mich mehr aus, da ich fühle, ein ausgeglichener Mensch mit vielseitigen Fähigkeiten zu sein. Und wenn ich seit dem ersten Lauf nicht viel mehr getan habe, als irgendwo herumzuliegen und an den nächsten zu denken, heißt das nicht, dass ich ein Faulpelz bin, sondern nur, dass ich mir der Bedeutung von Erholung nach körperlicher Belastung bewusst bin, oder?
Wenn es sich um einen Tag mit nur einem Lauf handelt, bevorzuge ich es fast immer, zum Sonnenuntergang zu laufen und das eben nicht nur, weil ich die Schönheit von Sonnenuntergängen liebe. Ich verstehe und bewundere den Enthusiasmus von Morgensportlern und beneide ihr gutes Gewissen, dass sie den Tag gut begonnen haben. Sie müssen sich keine Sorgen mehr machen, dass ihnen im Laufe des Tages etwas dazwischen kommen könnte, dass sie vom Sporttreiben später abhält. Ich dagegen mag es, wenn mir der Lauf noch bevorsteht. Mir macht es Spaß, darüber nachzudenken, welche Strecke ich wählen werde. Ich mag es, mir vorzustellen, wie ich mich wohl fühlen werde. Ich freue mich darauf, vom ersten Schritt an vollkommen wach und entspannt zu sein. Mir gefällt der Gedanke, dass, egal wie stressig der Morgen oder Nachmittag auch sein mögen, die Erlösung nah ist. Das ist Teil der menschlichen Natur – wir wollen uns auf etwas freuen können. Und genau das ist für mich ein Lauf kurz vor dem Abendessen: Wie ein Ritual, das mich vom strebsamen Arbeitsleben zum sorgloseren Teil des Tages überleitet. Vor allem aber schenkt mir dieser Lauf einen beruhigenden Gedanken: „Ich habe heute etwas Gutes für mich getan und mich gut dabei gefühlt.“ Vielleicht habe ich auch die Schönheit der Natur erlebt und ,weiches Licht’ gesehen. Und so zumindest für einen kleinen Moment diese unglaubliche Magie gespürt – und was sonst brauchen wir zum Glücklichsein?
Eine Version dieses Essays wird in Scotts bald erscheinendem Buch On Solid Ground: What It’s Like to be a Runner zu finden sein. Weitere Einblicke in das Buch werden wir Ihnen in den kommenden Monaten exklusiv auf dieser Internetseite geben. Weitere Fit Life-Essays finden Sie in unserer Rubrik Inspiration.
- Erschienen am 6. June 2007
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