Stretching: Die Wahrheit

Von Dr. Thomas Michaud, der seit 1996 mit Uta zusammenarbeitet
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Während allgemein bekannt ist, dass eine gute Ernährung und ein angemessener Trainingsplan wichtig sind, um Verletzungen vorzubeugen, gibt es dagegen bezüglich des Stretchings überraschend viele kontroverse Meinungen. Einige Leute schwören darauf, andere meiden es. Einige derer, die sich dehnen, tun dies vor dem Training, andere ausschließlich im Anschluss daran. Schauen wir, was die Wissenschaft zum Thema Stretching als Vorbeugemaßnahme sagt.

In der größten bis heute durchgeführten Studie über die Bedeutung von Stretching(1) untersuchten Wissenschaftler die Auswirkungen von Dehnungsübungen vor dem Training bei 1.538 Militärrekruten während eines zwölfwöchigen Trainingsprogramms. Eine Rekrutengruppe dehnte vor jedem Training 20 Sekunden lang jede der sechs wichtigsten Muskelgruppen, während der anderen Gruppe das Dehnen vor dem Training ausdrücklich untersagt war. Nach den zwölf Wochen gab es keine Unterschiede bezüglich der Verletzungsanfälligkeit beider Gruppen. Dieses Ergebnis spiegelt sich auch in vielen anderen Studien wider, die bewiesen haben, dass vor allem Stretching vor dem Training einen nur geringen bis gar keinen Einfluss auf die Prävention von Verletzungen hat. Vielmehr haben viele Studien darauf hingewiesen, dass das Dehnen die Gefahr einer Verletzung sogar erhöhen könnte, da der gedehnte Muskel weniger koordiniert(2) und vorübergehend geschwächt ist(3).

Eines ist jedoch problematisch: In den meisten Studien, die sich mit der Bedeutung des Stretchens befassen, wurden die Dehnübungen bis zur Schmerzgrenze und/oder direkt vor dem Training ausgeübt(1, 2, 3). Um einige der Widersprüche zum Thema Stretching aufzuklären, haben Wissenschaftler 70 australische Footballspieler zwei Jahre lang beobachtet, um die Häufigkeit von deren Oberschenkelverletzungen zu ermitteln.(4) Dann wurden die Athleten weitere zwei Jahre beobachtet, während derer sie spezifische Dehnübungen machen mussten. Im Gegensatz zu anderen Studien wurde ihnen untersagt, diese Übungen vor dem Training zu absolvieren. Sie sollten die Oberschenkelmuskulatur nach dem Training, also im müden Zustand, 15 Sekunden lang sanft in verschieden angewinkelten Kniepositionen (0, 10 und 90 Grad) dehnen. Die Autoren glaubten, dass die Dehnung eines müden Muskels dessen Fähigkeit verbessern würde, Stöße im verletzungsanfälligsten, d.h. müden Zustand, zu absorbieren.

Am Ende der Studie gingen die Oberschenkelverletzungen durch die Dehnübungen von durchschnittlich zehn Athleten pro Saison auf drei Athleten zurück. Auch die Zahl der versäumten Wettkampftage verringerte sich von 35 Tagen in der sich nicht dehnenden Gruppe auf zehn Tage in der Stretchinggruppe. Dieses Ergebnis dieser Studie verhält sich kongruent zu anderen Untersuchungen, die belegten, dass ein verspannter und ungedehnter Muskel verletzungsanfälliger ist(5), und dass eine durch das Dehnen erzielte höhere Flexibilität die Häufigkeit von Verletzungen reduziert.(6)

In einem der meiner Meinung nach besten Artikel über die Prävention von Verletzungen(7) untersuchten Wissenschaftler unterschiedliche Variablen in zwei Gruppen von Läufern. Die Läufer der einen Gruppe hatten bereits mindestens eine Verletzung aufgrund von Überlastung, während die andere Gruppe aus den seltenen Läufern bestand, die in ihrer gesamten Läuferkarriere noch keinerlei Verletzungen erfahren hatten. Beide Gruppen wurden mit unterschiedlichen Verfahren getestet und mit Hochgeschwindigkeitskameras gefilmt, während sie über spezielle Test-Plattformen liefen. Der einzige hierbei festgestellte anthropomorphe Unterschied war, dass die Läufer der verletzungsfreien Gruppe mehr Beweglichkeit in ihrer Oberschenkelmuskulatur aufzeigten. (Darüber hinaus zeigten sie eine Tendenz, den Fuß an der Außenseite der Ferse aufzusetzen und schneller einwärts zu drehen. Dies jedoch wird das Thema eines anderen Artikels sein.)

Demnach scheinen angemessen ausgeführte Dehnungsübungen die Häufigkeit von Verletzungen in der Tat reduzieren zu können. Aber wie lange sollte man eine Dehnung halten? Wieviel Kraft sollte man beim Dehnen einsetzen? Um diese Fragen klären zu können, haben Wissenschaftler die Reaktionen der Sehnen von Hasen auf verschieden starke Krafteinwirkung unterschiedlicher Dauer untersucht.(8) Die Wissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, dass Stoß- oder federnde Dehnübungen vermieden werden sollten, da sie den Muskel zu rasch belasten und beanspruchen und ihn dadurch für Muskelzerrungen anfällig machen. Zudem fanden sie heraus, dass statisches Stretchen von 30 Sekunden unter sanfter Druckausübung die Muskellänge am effektivsten beeinflusst. Den meisten Zuwachs an Muskellänge erreicht man den Wissenschaftlern zufolge in den ersten 15 Sekunden des Dehnens. Wiederholt man eine 30-sekündige Dehnübung zehnmal, sind die größten Muskellängen-Zuwächse nur während der ersten Wiederholungen zu verzeichnen. In der Tat erfolgen während der vierten bis zehnten Dehnung keinerlei weitere Zuwächse.

Vergessen Sie nicht, dass es neben dem passiven Stretching eines Muskels zahlreiche andere Wege gibt, dessen Beweglichkeit zu erhöhen. Die beliebtesten Alternativen zu den statischen Dehnungsübungen sind die Übungen der proprioceptiven neuromuskulären Förderung, kurz PNF oder auch Anspannungs-Entspannungs-Stretching genannt. Diese Dehnübungen umfassen unterschiedliche Formen sanfter Muskelkontraktionen der Agonisten und Antagonisten eines Muskels, die vor dem Dehnen ausgeführt werden. Bei dieser Methode wird der Muskel schrittweise erwärmt, bevor er gedehnt wird. Dadurch können wir größere Bewegungsmöglichkeiten erlangen, ohne den Risiken eines zu kräftigen passiven Stretchings ausgesetzt zu sein (z.B. Schwäche oder eingeschränkte Koordination). Bei einer weiteren häufig angewandten Methode zur Verbesserung der Beweglichkeit werden längere sanfte Dehnungen eingesetzt, die über längere Zeiträume gehalten werden. Diese Technik beruht auf der Theorie, dass die negativen Nebenwirkungen von Stretching vermieden werden können, weil hierbei weniger stark als bei kurzzeitigen passiven Dehnungen gedehnt wird. Gleichzeitig werden der Muskel sowie das ihn umgebende Bindegewebe (Faszie) durch die sanfte Krafteinwirkung schrittweise verlängert.

In einer Studie, die die Effektivität des konventionellen statischen Stretchings gegenüber dem verlängerten gering dosierten Stretching bei der Behandlung einer chronischen Entzündung der Plantarfaszie(9) untersuchte, erwies sich das längere sanfte Stretching, bei dem eine Manschette zur lang andauernden Dehnung der Wade benutzt wurde, als vorteilhafter. Die Gruppe der längeren sanften Dehnung zeigte einen signifikant höheren Rückgang bei den Schmerzen, benötigte weniger ärztliche Folgeuntersuchungen und weniger zusätzliche Interventionen. Das verlängerte statische Stretching ist so effektiv in der Wiederherstellung von Bewegungsmöglichkeiten, dass es häufig bei der Wiederherstellung der Beweglichkeit nach dem Einsatz neuer Knieglenke eingesetzt wird, wenn das konventionelle statische Stretching einfach nicht ausreichend ist.

Daraus ergibt sich: Vermeiden Sie Dehnübungen vor dem Training, und dehnen Sie niemals bis zur Schmerzgrenze. Ein richtiges Aufwärmprogramm beinhaltet langsames Joggen (oder auch Gehen) in den ersten fünf Minuten Ihres Laufes, gefolgt von ein paar leichten Dehnungsübungen. Dies bringt den Kreislauf in Schwung und erwärmt Ihre Muskeln schrittweise, ohne sie zu überlasten.

Nach Ihrem Lauf dehnen Sie die wichtigsten Muskelpartien jeweils 15 bis 30 Sekunden. Gehen Sie dabei niemals an Ihre Schmerzgrenze. Es ist besser, die Dehnungsposition für 15 Sekunden zu halten und diese mehrmals am Tag zu wiederholen, statt einen spezifischen Muskel nur einmal über längere Zeit zu dehnen. Wie bei den meisten Dingen im Leben ist auch bei der Verletzungsvorbeugung das richtige Maß ausschlaggebend – bleiben Sie maßvoll bei der Intensität Ihres Trainings ebenso wie bei der Intensität und Häufigkeit Ihres Stretchings. Die Belohnung eines verletzungsfreien Laufens ist das allemal wert.

Quellenangaben
(1) Pope RP, Herbert RD, Kirwan JD Graham BJ. A randomized trial of preexercise stretching for prevention of lower limb injury. Med Sci Sports Exerc 2000; 32 (2): 271-277.

(2) Behm DG, et al. Effect of acute static stretching on force, balance, reaction time, and movement time. Med Sci Sports Exerc 2004; 36: 1397-1402.

(3) Fowles JR, Sale DG, MacDougall JD. Reduced strength after passive stretch of the human plantar flexors. J Appl Physiol 2000; 89: 1179-1188.

(4) Verrall GM, Slavotinek JP, Barnes PG. The effect of sport specific training on reducing the incidence of hamstring injuries in professional Australian rules football players. Br J Sports Med 2005; 39: 363-368.

(5) Witvrouw E, et al. Muscle flexibility as a risk factor for developing muscle injuries in male professional soccer players: a prospective study. Am J Sports Med 2003; 31:41-46.

(6) Harig DE, Henderson JM. Increasing hamstring flexibility decreases lower extremity overuse injuries in military basic trainees. Am J Sports Med 1999; 27:173-176.

(7) Hreljac A, Marshall RN, Hume PA. Evaluation of lower extremity overuse injury potential in runners. Med Sci Sp Exerc 2000; 32 (9): 1635-1641.

(8) Taylor DC, Dalton JD et al. Viscoelastic properties of muscle-tendon units. The biomechanical effects of stretching. Am J Sports Med 1990; 18: 300-309.

(9) Barry L, Barry AN, Chen Y. A retrospective study of standing gastrocnemius-soleus stretching versus night splinting in the treatment of plantar fasciitis. Clinical Biomechanics 2002; 41 (4): 2 21-2 27.