Laufen und Rudern: Ausdauer im Vergleich

Von Andrew Edwards und Scott Douglas
© Betty Shepherd
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In vielen Gegenden der USA bietet das Ende der Semesterferien einen vertrauten Anblick: Rudermann- schaften gleiten anmutig in den frühen Morgen- oder Abendstunden übers Wasser. In amerikanischen Städten wie Philadelphia, Boston und Washington, in denen Rudermann- schaften traditionell stark vertreten sind, können Läufer bei ihren Runden regelmäßig die Fitness und Ausdauer ihrer rudernden Sportkameraden be-staunen. Schon beim Zuschauen wird jedem auffallen, dass Rudern ein hohes Maß an Kraft, Ausdauer, Koordination sowie Teamwork verlangt.

In den deutschen Hochburgen des Rudersports, wie beispielsweise Potsdam, wo Uta Pippig früher viele Jahre trainierte, begegnen sich Ruderer und Läufer häufig im Winter und im Frühjahr auf den Laufstrecken. So mancher Läufer ist dann erstaunt über das Ausdauervermögen der „Recken”. Die Frage ist durchaus interessant: Inwieweit ist die Fitness eines Läufers mit der eines Wettkampf-Ruderers vergleichbar? Könnte ein Ruderer aufgrund seines Ausdauervermögens einen vergleichsweise guten Marathon laufen, und kann man von einem Läufer erwarten, dass er sich erfolgreich in die Riemen legt?

Ein Maß der aeroben Fitness ist die maximale Sauerstoffaufnahme, d.h. die Menge an Sauerstoff, die die beanspruchten Muskeln verarbeiten können. Wettkampf-Ruderer haben fast doppelt so viel aerobe Kapazität wie Nicht-Sportler gleichen Körpergewichts. Die aerobe Kapazität eines Weltklasse-Ruderers liegt jedoch acht bis zehn Prozent unter der von Topläufern. Das ist nicht wirklich überraschend, denn Rudern setzt mehr Muskelkraft voraus als das Laufen.

Sowohl Elite-Ruderer als auch -Läufer haben eine wesentlich höhere Anzahl von muskulären Slow-Twitch-Fasern (ST-Fasern) als ein durchschnittlicher Mensch. Slow-Twitch-Fasern sind langsam kontrahierende Fasern, die bei Ausdauerleistungen den größten Teil der Arbeit verrichten, da sie am besten Sauerstoff verarbeiten können. Fast-Twitch-Fasern (FT-Fasern) hingegen sind schnell kontrahierende Fasern, die schnelle und kräftige Bewegungen ermöglichen, jedoch nach kurzer Belastungszeit ermüden. Ein durchschnittlicher Mensch hat jeweils etwa zur Hälfte ST- und FT-Fasern. Wettkampf-Ruderer und -Läufer dagegen haben oft einen Anteil von etwa 70 Prozent an langsam kontrahierenden Fasern, bei manchen liegen sogar noch höhere Konzentrationen vor. Einige Ruderer weisen bis zu 85 Prozent ST-Fasern auf. Bei Alberto Salazar, dem früheren Weltklasse-Läufer und Sieger der Marathonläufe in New York und Boston, wurden sogar einmal 92 Prozent gemessen.

Obwohl Läufer und Ruderer also eine ähnliche Muskelzusammensetzung haben, ist die Struktur dieser Muskeln oft unterschiedlich. Wie bei den meisten Ausdauerathleten im Hochleistungsbereich ist der Muskelquerschnitt der einzelnen Muskelfasern bei Läufern ziemlich klein. Wie Trainingsphysiologe Stephen Seiler erklärt, bedeuten „kleine Muskelzellendurchmesser geringere Distanzen bei der Sauerstoffdiffusion”. Mit anderen Worten: Im Ausdauertraining kann der Muskel auf diese Weise mit mehr Sauerstoff „gefüttert“ werden.

Der Muskelquerschnitt der Muskelfasern eines Ruderers dagegen ist ungewöhnlich groß. Seiler bemerkt hier, dass „die Schlagfrequenz im Wettkampf-Rudern im Vergleich zur Kontraktionsfrequenz beim Laufen – oder auch beim Radsport – ziemlich gering ist. Im Gegensatz dazu ist die Muskelkraft an ihrem Leistungshöhepunkt wesentlich höher. Ein Ruderer muss in relativ wenigen Perioden einen hohen Kraftaufwand verrichten und hat zwischen diesen Kontraktionen längere „Ruhe“-Intervalle. Um das leisten zu können, müssen größere Muskelfasern ausgebildet werden.“

Die Erfahrung einer Athletin

Jess Barker war sowohl Ruderin wie auch Läuferin. Als Studentin ruderte sie für ihre Universität in Cambridge und lief den London-Marathon 2005 in 3:42:19 Stunden. Ihre Erfahrungen zeigen Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede der beiden Sportarten auf.

„In der Schule habe ich mich selbst nie wirklich als sportlichen Typ gesehen“, sagt Jess. „Ich bin ab und zu gelaufen, habe gelegentlich an Crossläufen teilgenommen und bin manchmal die 1.500 und 3.000 Meter bei regionalen Schulmeisterschaften gelaufen.“ Auch am Londoner Mini-Marathon der Schüler hat sie teilgenommen, jedoch ohne großen Erfolg.

Als sie nach Cambridge ging, beschloss sie, es einmal mit dem Rudern zu versuchen. Schon ihr Vater war Ruderer, während ihre Mutter eher die drahtige Statur einer Langstreckenläuferin hat.
Am College absolvierte Jess in der Woche durchschnittlich vier Trainingseinheiten auf dem Wasser, zwei Einheiten Krafttraining sowie zwei „Ergo“-Einheiten, wobei die individuelle sowie die Mannschaftsleistung über eine bestimmte Distanz gemessen wurden. Das Ergometer-Rudern bestand entweder aus einem 30-Minuten-Intervall bei einem konstanten Tempo oder, wie Jess es ausdrückt, „dem allseits gefürchteten 2-Kilometer-Test”, bei dem jeder aus dem Team so schnell rudern musste, wie er oder sie konnte.

Jess war technisch nicht so stark, aber sie hatte Durchhaltevermögen und es gab ihr ein tolles Gefühl, mit anderen, technisch besseren Ruderern in einem Boot zu sitzen. In ihrem letzten Jahr an der Universität jedoch begann Jess sich mehr und mehr auf das Laufen zu konzentrieren.

Im Herbst 2004 beschloss sie, beim London-Marathon im darauf folgenden Frühjahr mitzulaufen. Ihre Vorbereitung verlief gut: Sie absolvierte zwei Halbmarathonläufe zwischen 1:40 und 1:45 Stunden sowie 45:00 Minuten über 10 Kilometer. So lange Zeit auf den Beinen zu sein, war dabei etwas ganz anderes als zu rudern, wo sie wusste, dass sie bis zu 15 Minuten hundertprozentigen Einsatz zeigen und dabei genau auf die Anweisungen des Steuermannes achten musste. „Beim Laufen konnte ich in meine eigene Welt abtauchen“, sagt Jess, „aber wenn ich meine 20-Meilen-Läufe während des Trainings absolvierte, war das ganz schön anstrengend.“

Am Marathontag verlief beinahe alles nach Plan. Bis auf die letzten vier bis fünf Meilen lief Jess in dem Tempo, das sie sich vorgenommen hatte. Sie erreichte das Ziel in 3:42:19 Stunden. „Danach konnte ich kaum noch laufen und war total fertig“, erinnert sie sich.

Nach ihren Ausdauer-Erfahrungen als Marathonläuferin und Wettkampf-Ruderin vergleicht Jess die Anforderungen an die jeweilige Sportart sowie ihren jeweiligen Fitnesszustand: „Als ich in meinem zweiten Jahr als Studentin meine besten Leistungen beim Ergometer-Rudern erzielte, hätte ich garantiert keine 45 Minuten über 10 Kilometer laufen können. Umgekehrt fiel es mir in den Wochen nach dem London-Marathon unheimlich schwer, beim Ergometer-Test mit den anderen mitzuhalten. Einen Marathon vorzubereiten und zu laufen, ist etwas völliges anderes als das Ausdauertraining fürs Rudern.”

Jess’ Erfahrungen zeigen, dass Ausdauer nicht gleich Ausdauer ist. Auch wenn ein hohes Maß an Ausdauerfähigkeit den Übergang von einer Ausdauersportart zur anderen erleichtern kann, bedarf es doch eines spezifischen Trainings, das die notwendigen körperlichen Veränderungen bewirkt, will man in einer bestimmten Sportart erfolgreich sein. Ruderer und Läufer verdienen enormen Respekt und müssen sich nicht miteinander vergleichen: Athleten beider Sportarten können atemberaubende Ausdauerleistungen erzielen und so manchen begeistern, sich ins Ruderboot zu setzen oder die Laufschuhe zu schnüren.